Freitag, 11. Februar 2011

Statt im Eisen im Büro

Neben dem Studium, für das er gut genug versorgt wurde, wollte Dottore noch Geld verdienen, um längere Reisen zu machen und ein Auto zu unterhalten. Damals – Ende der 50er Jahre – ging man als männliches Wesen auf den Bau. Nun war das Dasein als Bauhilfsarbeiter mit bisweilen mühseligen Arbeiten verbunden, man stand am untersten Ende der Hierarchie. Auf einer Großbaustelle erhielt Dottore das Angebot, er könne Fuchsfahrer oder Eisenbieger/flechter werden. Fuchs war ein mit Rädern ausgestatteter kleiner Bagger, Baggerfahrer sind relativ angesehen, sie müssen sorgfältig arbeiten, ein Fehler von ihnen kann leicht Menschen verletzen. Dottore entschied sich für Eisenbieger, da er von zukünftiger Arbeit anderwärts ausging und Fuchsbagger eben nicht überall benutzt wurden. Nun war Dottore noch nicht Dottore, er strebte aber danach, über das, was er machte, Bescheid zu wissen. Also lieh er sich ein Buch über Stahlbetonbau aus und las es.

Eines Tages nun waren keine 8er Eisen da. (Einfügung von Pantalone: Nun kann der bologneser Schlaumeier los legen, wappnen Sie sich, es dauert Stunden, bis er seine angebliche Weisheit verkündet hat!). Trotz des unsachlichen Einwandes muss ich das wohl kurz und knapp erklären: Stahlbeton ist ein Baustoff, bei dem der Beton die statischen Druckmomente, der eingelegte Stahl die Zugmomente aufnimmt. Je dicker ein eingelegter Stahlkörper ist, desto stärkere Zugmomente hält er aus. Die Zugfestigkeit des Monierstahls wird nach seiner Dicke, also seiner Querschnittsfläche, berechnet. Es gibt nun die Bewehrungspläne, in denen festgelegt ist, an welchem Ort welche Stahlstangen im fertigen Baukörper sein müssen. Allerdings ist manchmal nicht alles festgelegt, so gibt es Bereiche, in denen dem auf der Baustelle Tätigen überlassen bleibt, welchen Monierstahl er einlegt, es muss nur die Querschnittsfläche stimmen. In einem Pfeiler, Säule genannt, sollten auf zwei Seiten je drei 8er Eisen (also Stahl) eingebaut werden, aber 8er waren nicht da, nur 10er, damit ist der Durchmesser gemeint.

Die Rechnung ist einfach und letztlich leicht nachvollziehbar:

Die Fläche des Kreises ist π x r x r. Da die Summe beider Kreisflächen (also der vorgesehenen 8er und der vorhandenen 10er) gleich sein soll, ist eine Gleichung nötig. Da die nicht leicht beim Rechnen handhabbare Zahl Pi auf beiden Seiten der Gleichung auftaucht, kann man sie kürzen.

6 x (8:2) x (8:2) x π = X x (10:2) x (10:2) x π
6 x (8:2) x (8:2) = X x (10:2) x (10:2)
6 x 4 x 4 = X x 5 x 5
96 = X x 25
X = 4

Es entspann sich folgendes Gespräch:

Jungdottore: Polier, wir brauchen sechs 8er Eisen!
Polier: Mir habbe kaa 8er, nur 10er und 12 er.
Jungdottore (nach kurzer Rechenpause): Dann brauchen wir 4 10er!
Polier: Woher willst dann Du des wisse?
Jungdottore: Das habe ich ausgerechnet!
Polier: Des kann mer nit ausrechne, do muss mer im Bucch nachgucke.

Daraufhin holt der Polier den Stahlkalender aus der Tasche und schaut nach. Dann guckt er Dottore kurz an, nickt und beschließt, dass dieser ihm von nun an nicht geheuer ist.

Die Baustelle wurde wegen ihrer Größe von einer Arge betrieben, die möglichst wenige Angestellte bezahlen wollte. Die örtliche Bauleitung saß in einer Baracke, in der ein Raum mehr als kniehoch mit Plänen für das Bauvorhaben angefüllt war. Jeder Plan war erst nach langem Suchen zu finden. So sann man darauf, irgendjemand aus der Schar der Arbeiter zu finden, den man "aufs Birro" schicken konnte, ohne förmlich einen Angestellten zu beschäftigen. Der Polier wollte diesen eigenartigen Dottore loswerden und schlug ihn vor. Dottore sträubte sich etwas zum Schein, verlangte wegen der schwierigeren Arbeit eine Prämie von einer angerechneten Stunde täglich, ohne sie ableisten zu müssen, was genehmigt wurde.

Blitzschnell verwandelte Dottore sich in einen Bürokraten. Rasch erkannte er das System der durchnummerierten Pläne, orderte Regale und Kisten voller Leitzordner sowie eine Büroeinrichtung mit einem Locher. Alle Pläne wurden erfasst, in Ordner mit Inhaltsliste geheftet. Im Grunde war die Arbeit nach einer Woche erledigt, dann kamen pro Tag nur noch zwischen 20 und 50 neue Pläne, die sich ebenfalls rasch in die nun bestehende Ordnung einfügen ließen. Aber Dottore entwickelte nun instinktiv bürokratisches Bewusstsein. Die Pläne wurden nicht sofort alle eingeordnet, ein immer kleiner werdender Haufen der Pläne auf dem Boden bewies die Notwendigkeit seiner Weiterarbeit. Auch musste von nun an der Erhalt eines Planes auf den Inhaltslisten der Ordner quittiert werden. Die meiste Zeit verbrachte Dottore damit, die sich die Pläne anzusehen und dabei doch etwas von der ihm bis dato fremden Sphäre zu lernen.

Die Verwandlung in einen Bürokraten wurde auch von den anderen Mitarbeitern akzeptiert, es gab die gemeinsamen Pausen, es gab „die da draußen“, man verlegte ein Telefon in den Raum für die Pläne, Dottore mahnte rechtzeitig die Übersendung neuer Pläne an, man war traurig, als das Semester begann und Dottore sich verabschiedete. Die stärkste Veränderung geschah beim Polier. Zuerst nahm er beim Betreten des Raumes der Pläne die Mütze ab, dann akzeptierte er widerspruchslos das verlangte Quittieren, sein auf der Baustelle völlig übliches „Du“ wurde zuerst durch unpersönliche Anrede ersetzt, nicht mehr: „Gebb mer mol de Plan 598/34“ sondern „Isch bräuchte de Plan 598/34“, dann erst versteckt ein „Wenn Se en da habbe“, bis zum offenen Sie und Hochdeutsch. Wurde der wöchentlich gezahlte Lohn zuerst mit „Da, die Lohndudd“ überreicht, so hieß es jetzt: „Hier Ihre Lohntüte“. So sammelte Dottore soziologische Einsichten einschließlich der Feststellung, dass er eben zu den Klasse der Herrschenden gehöre, Rechnen als Eintrittsgebühr in die höhere Klasse.

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