Sonntag, 26. August 2012

Lenin und die Reichspost


Es ist gängig und liegt im Trend, sich über die Altvorderen des Sozialismus lustig zu machen. Zu den bei derlei Gelegenheiten kolportierten Absurditäten zählt die Bemerkung Lenins, die kommende Volkswirtschaft im Sozialismus zu erst einmal nach dem Vorbild der Reichspost aufzubauen. Man stelle sich vor!

Man tut beiden Unrecht. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan hatte ab 1860 eine durchstrukturierte, gut funktionierende Institution geschaffen, die bis zu ihrem Ende im Jahre 1994 durch die unselige Privatisierungssucht  jedes Jahr Gewinne abwarf, deren beträchtliche Höhe in den Staatshaushalt flossen. Die Mitarbeiter arbeiteten effektiv und die Spitzen der Verwaltung leisteten ihre Arbeit ohne Bonuszahlungen. Man war der übergeordneten Idee verpflichtet, alles Umstände, die für eine Übergangszeit ein Vorbild hätte sein können. Zu diesen Umständen gehörten auch Leistungen, die betriebswirtschaftlich nicht rentabel waren, jedoch volkswirtschaftlich und human von Wichtigkeit. Dazu eine Geschichte:  

Helmut und Jutta waren Anfang der 1960er der Hamburger Hochnäsigkeit entflohen, nach Berlin. Helmut studierte Jura, Jutta machte ab und zu Fußpflege, sie hatten eine der großen Wohnungen gemietet, die seitlich des Kurfürstendammes noch erhalten waren. Die Haupteinnahmequelle der beiden waren der Mietzins der zahlreichen Untermieter. Man kam gerade so über die Runden. Dann wurde Jutta schwanger, es kündigten sich Zwillinge an, die ganze Ökonomie geriet ins Wanken. Alle Freunde und Bekannten – die meisten hatten ähnlich wenig Geld – hatten Mitgefühl, zumal die Fortsetzung der Menschwerdung als mutige Entscheidung gewertet wurde.

Die junge Mutter erhielt einen Anruf von der Nachforschungsstelle der Berliner Post. Ob sie Zwillinge geboren hätte, wie sie von ihren Freunden genannt würde, ob sie ein Paket erwarte? Antwort: Ja; Jule; ja. Dann haben wir ein Paket für sie!

Auf die Nachricht der Geburt hin hatten süddeutsche Freunde, deren Kinder schon größer waren, rasch ein Paket mit nicht mehr benötigter Wäsche für Kleinstkinder gepackt, wobei sie in das Paket eine Kurznachricht einlegten: „Liebe Jule, herzlichen Glückwunsch. Für deine Beiden das Notwendigste. Brief folgt. Grüße ...".

Auf dem Weg nach Berlin war das Äußere des Paketes zerrissen worden, der Adressenaufkleber (samt Absender) war dabei bis auf die Stadtbezeichnung verlorengegangen. Also landete das Paket in der Nachforschungsstelle für verlorengegangene Sendungen. Dort dachte man kurz nach, Empfängerin musste eine Frau sein, die zum einen Julia oder Jutta hieß, zum anderen musste sie vor kurzem Zwillinge geboren haben. Westberlin war zwar eine Millionenstadt, aber beide Merkmale trafen nur eben bei Jutta zu, nachdem man Standes- und Meldeamt konsultiert hatte. So gelangte die Hilfe zu den Zwillingen.

Veränderungen zu heute:

1. Helmut ist ein pensionierter höherer Ministerialbeamter,
2. Jutta studierte noch Medizin und wurde eine tüchtige Ärztin,
3. die „Beiden“ sind Endvierziger und haben ihrerseits schon seit langem Kinder,
4. die Wohnung war in einem Haus, das längst abgerissen ist,
5. erweisen sich heute Pakete als „unzustellbar“, dann werden sie gesammelt und versteigert, der Absender erhält von der Versicherung nach langen Auseinandersetzungen bisweilen eine Entschädigung.

Der Glaube, jede Veränderung sei ein Fortschritt, sollte auf Menschen beschränkt bleiben, die Holzkohle herstellen.


Dottore: „Der assoziativ und in Bildern denkende Pantalone will noch was!“

Pantalone: „Als ich 2009 durch die Troas fuhr, sah ich mehrere Meiler, die rauchten, aber verlassen schienen. Dann kamen die Köhler schlaftrunken aus ihrer Hütte. Ich zweifle, ob man heute noch weiß, wie das aussieht. Daher mein Bild. – Kaum aufgewacht, machten sie aber einen umsichtigen Eindruck, ihnen war der sprichwörtliche Glauben nicht eigen!“  

Nachtrag vom 21. 11.  2018:

Bekanntlich sucht Pantalone ununterbrochen im Internet nach Bildern, von denen er meint, sie seien von allgemeinem Interesse - beachtenswert ist dabei die Gleichsetzung von "Meinung" und "Allgemeinheit". Nun hat er das Bild einer Postkarte gefunden und bedrängt Dottore seit geraumer Zeit, das hier wiederzugeben. 


Als es eben noch Postkarten verschickt wurden, da hatte der unbekannte Absender ein russisches Kartenformular erworben, die Karte mit unterschiedlicher Schrift (bei dem Wort POSTSEKRETÄR handelt es sich um deutsche Schreibschrift, nicht um Sütterlin!) adressiert und sie dann am 21. September 1901 bei dem russischen Postamt in Smyrna eingeworfen. Die zaristische Post (respektive die Ochrana) brauchte aber geraume Zeit, um die Harmlosigkeit der versendeten Botschaft zu entschlüsseln und konnte daher erst am 4. Oktober 1901 die Karte dem deutschen Postamt zuleiten. Dann aber brauchte die Nachricht nur fünf Tage, um nach Calbe zu gelangen. Damals gab es nur Eisenbahntransport, der aber offenbar vorzüglich funktionierte. Als Pantalone und Dottore vor mehreren Jahren zum letzten Mal aus Kleinasien Postkarten expedieren wollten, da dauerte der Transport 17 Tage, trotz des Einsatzes von Flugzeugen. 

Dottore kann sich nur selbst zitieren: Der Glaube, jede Veränderung sei ein Fortschritt, sollte auf Menschen beschränkt bleiben, die Holzkohle herstellen.

Montag, 13. August 2012

NÄHSI


Ein Journalist ist ein Mensch, der morgens weiß, dass er im Laufe des Tages einen tiefschürfenden Artikel über einen Sachverhalt schreiben wird, von dem er bislang nicht die geringste Ahnung hat. Meist merkt es derjenige, der die Materie kennt, aber da es so unendlich viele Sachen gibt, über die zu berichten die Medien für nützlich erachten, ist der Prozentsatz derjenigen gering, die die Irrtümer erkennen. Journalisten sind nicht „Schöne des Tages“, sondern die Gehetzten der Stunde. Sie folgen Moden und haben sich dem Trend anzupassen, den das Medium, die political correctness, der Zeitgeist vorgeben. Ein Bestandteil jenes Zeitgeistes ist der Import aus den USA, der da lautet: That´s Nazi.

Betrachten wir uns die Türklinke, so ist an ihr kaum etwas auffällig. Der Versuch einer Analyse ihres Aussehens liefe auf  eine Einordnung in die „Neue Sachlichkeit“ hinaus. Aber gefehlt: Das Haus, in dem sie das Öffnen und Schließen einer Tür ermöglicht, ist 1938 erbaut worden, ergo: Das ist eine Nähsiklinke. Wer das nicht merkt und sich darüber gar noch erhebt, ist nähsiverdächtig, zumal, wenn er – wie der Autor – 1939 geboren wurde, das Verdammnis der späten Geburt ist allumfassend. So verkommt eine wichtige Kategorie der nie vollständig geleisteten Selbsterkenntnis des deutschen Volkes zum Spielball einer oberflächlichen Kaste.


Im Spiegel-online wurde über einen US-Soldaten berichtet, der einen Tag nach der Einnahme von Dachau das dortige Konzentrationslager besichtigte, ein Erlebnis, das ihn jahrzehntelang beschäftigte und bedrückte. Außerdem brachte er während der Kriegszeit ein Album mit relativ gut gemachten Aufnahmen an sich, fast alle Bilder zeigen den militärischen Alltag. Im Spiegel wird das ein „Rätselhaftes Nazi-Fotoalbum: Das schreckliche Souvenir“. Schaut man sich die Bilder genauer an, so erkennt man auf einigen Hakenkreuze. Es war wohl damals kaum möglich, den Alltag zu fotografieren, ohne den Gegenstand mit abzubilden, der „für den kleinen Mann einen Haken“ hatte. Unter einem spezifischen Nazi-Fotoalbum ist etwas anderes zu verstehen. Der Besuch in Dachau ist für den jahrzehntelangen Besitzer des Albums sicherlich ein Trauma gewesen, was nur zu verständlich ist. Aber das Album ist und bleibt ein harmloses Mitnehmsel. Die Sprache verrät wieder einmal die Gesinnung des Schreibers: Ein Souvenir ist ein Mitbringsel, das an eine angenehme Zeit – meist einen Urlaub – erinnern soll. Schrecklich ist im konkreten Fall der Besuch im KZ Dachau gewesen. Die Verbindung beider Sachverhalte zeigt die würdelose und unangemessene Haltung des Journalisten, der eines schäbigen Effektes willen die Schuld der Deutschen usurpiert, um sie zu vermarkten. Eben Nähsi!

Schlimmer noch schlägt da die TAZ zu, sie erklimmt dabei Grade der Journalistik, die eine Rabulistik aufzeigt, die in den Machwerken des Gauleiters von Nürnberg üblich waren. Die tapferen Antifaschisten der TAZ decken ein „braunes Kapitel“ des Luchterhandverlages auf, das bislang unveröffentlicht war. Das wird garniert mit dem angeblichen Fehlverhalten eines der wichtigsten Autoren des Verlages, illustriert mit dessen Bild, auf dem er betroffen vor sich hin blickt. Frohlocken bei der TAZ: Jetzt haben wir es den Vätern aber mal gezeigt. Ach, ihr Buben, ihr seid nicht dumme Jungens, mit eurer Art der Darstellung kopiert ihr den „Stürmer“. Aufgebauschte, unüberprüfte Tatsachen, falsche Beurteilungen, unterschwellige Unterstellungen.

Ein Autor der Zeitung liest im Landesarchiv von Berlin eine Prozessakte. Juristen wissen seit zweitausend Jahren, audiatur et altera pars. Der Tazianer zitiert immer nur aus dem Vortrag der einen Seite, was wird nicht alles in einem Rechtsstreit behauptet.

Der kleine Luchterhandverlag, dessen Gesellschafter die Herren Luchterhand und Reifferscheidt waren,  gelangte in der Zeit vor 1939 in den Besitz einer Druckerei, die einen Herrn Scholz gehörte, der mit einer Frau liiert war, die nach dem von Adenauers Staatssekretär kommentierten Gesetz keine Arierin war. Selbst wenn die beiden Gesellschafter des Verlages so gehandelt haben sollten, wie der Tazianer ihnen unterstellt, dann waren sie keine Nähsi, sondern allenfalls widerliche Trittbrettfahrer. Fremdes Gut an sich zu bringen, ist nämlich nichts spezifisch faschistisches, sondern Teil einer eigentumsorientierten Welt. Eine vergleichbare Gemeinheit wäre, man legte ein Ablehnungsschreiben des Luchterhandverlages zu einem Romanentwurf des Autors vor, oder: man begänne diesen Text mit dem Hinweis auf die IM – Akte des Autors, beides reine Phantasie. Da der Herr Luchterhand nach dem Krieg nicht so in Erscheinung trat, wird an Herrn Reifferscheidt herumgemäkelt. Sollte er etwa nicht mit Günter Grass in Prag nach dem Besuch des Grabes von Kafka über die gleiche Vergangenheit in faschistischer Zeit sich ausgetauscht haben, nichts liegt doch näher. Und überhaupt Grass, wer einmal bei der Waffen-SS aus dem Blechnapf fraß, der bleibt ein Antisemit sein Leben lang. Eine Unterscheidung zwischen der Kritik an Israels Außenpolitik, wobei Außen eben auch die besetzten Gebiete mit umfasst, und Antisemitismus ist untunlich, da sonst die Feststellung „Nähsi“ nicht möglich ist.

Um es klar festzuhalten: Der „hilflose Antifaschismus“ hat weder in den alten, wie den neuen Bundesländern es vermocht, es nicht vermögen wollen, über die Zeit des deutschen Volkes zwischen 1933 und 1945 eine Besinnung, gar Trauer und Einsicht herbeizuführen. Nun mögen die Amerikaner in Filmen oder Videospielen Nähsis zu der Sorte Mensch machen, die früher die Mexikaner einnahmen, dieses Mal mit erheblich mehr Berechtigung. In Deutschland aber dient die marktschreierische Beschäftigung mit der Schande nur der Erregung von Aufmerksamkeit für das eigene Produkt. Die letztlich unaufgearbeitete Vergangenheit darf nicht so um des eigenen Nutzens willen privatisiert werden.

Freitag, 10. August 2012

Holdes


Es gibt für Deutsche Texte, die immer wieder gelesen werden sollten. Gegenwärtig schwanken wir zwischen Stolz und Angst, stolz, weil der Euro eine verkappte harte Mark ist, ängstlich, weil die bösen Nichtstuer im Süden sie aufzuweichen drohen. Ach, wie oberflächlich ist das alles. Mit Hölderlin sind die Deutschen nicht sorgsam umgegangen, ihm blieb nur die Flucht in die Nacht, die Umnachtung. Zuvor aber hatte er einen der notwendig immer wieder zu lesenden Texte erschaffen. Ihm sei das weitere eingräumt:

„So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten
Wie anders ging es mir!
Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.
Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?
Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke.
Die Tugenden der Alten sei'n nur glänzende Fehler, sagt' einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt' ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.
Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind – wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!“

Das Abschreiben ersparte „gutenberg.spiegel.de“

Das Fugenwerk


Jeden Sommer tobt ein Krieg in Deutschland, heftig und unerbittlich. Wer mit dem Begriff Fuge ein Werk von Johann Sebastian Bach verbindet, dem bleibt das Schlachtfeld fremd. Die Waschbetonplatte liegt selten allein, sie grenzt an andere gleichartige Hässlichkeiten, was ihr noch verziehen wird. Aber der Zwischenraum! Statt damit zufrieden zu sein, überhaupt zu existieren und mit Sand gefüllt zu sein, lockt dieser Streifen allerlei Lebewesen an. Pflanzliche Wesen lieben es, in ihm zu keimen und einen zarten Trieb nach oben zu senden, dann – oh, Schreck – sprosst plötzlich Leben da auf, wo nur Unnatur sich breit machen darf. Man kann dieses Unwesen chemisch, mechanisch, mit Feuer und Dampf bekämpfen, immer wieder erweist sich die Natur stärker als der Ordnungstrieb, dem die Unfuge ein Graus ist.

Da gibt es zum einen die Möglichkeit, beim Aldi – weil es da am billigsten ist – Haushaltsessig zu kaufen, der dann zum Gartenessig wird, die Essigsäure beißt die Pflänzchen tot, andere, gleichartige Mittel werden unter Freunden vertraulich weiterverraten. Am beliebtesten ist ein Gerät, der Fugenkratzer.

  
Ihn gibt es in vielerlei Ausführung, mit Wechselklinge, mit Verlängerung, Markengeräte und namenlose. Wenn man mit ihm arbeitet, also die spärliche Fugennatur bekämpft, dann weiß man nach der Arbeit mit schmerzendem Rücken, dass man – leider nur vorübergehend – gesiegt hat, aber spätestens nach wenigen Tagen ist schon wieder ein zartes Grashälmchen zu sehen. Ein Kollege des Fugenkratzers ist die Stahlbürste, deren Ausrichtung ihrer Borsten der Pflanzenpracht in der Fuge ein Ende bereiten soll, es kommt leider viel Sand mit, der verräterisch mit Humus durchsetzt ist.

Wem der Rücken anhaltend schmerzt, greift zu dem Feuer, das aus speziellen Spendern auf die Pflanzen niederbraust, für die – so meint der Verwender – das Jüngste Gericht angebrochen scheint. Aber eben nur der Schein des Endgültigen: nach wenigen Tagen schon treiben die Pflänzchen neu aus.

Dann kann man der Natur noch mit den Geräten zu Leibe rücken, die der vorherige Staatspräsident des Nachbarlandes dafür verwenden wollte, die Vororte von Paris von einer Sorte Menschen zu reinigen. Der anhaltende Wasser- und ggf. Dampfdruck erweist sich als unfähig, der natürlichen Entwicklung entgegen zu wirken, übrigens Banlieu auch, auch dort muss man sich anderes einfallen lassen.

Weit schlimmer noch als Pflanzen sind Ameisen, die nicht ruhen und rasten, bis sie sogar die schmucke Waschbetonplatte unterminiert haben. Nur kleine Völker sind zu bekämpfen, größere gehen in die Tiefe und setzen von dort ihre Unterwandertätigkeit fort.

Ein Fachmann, herbeigerufen und um Rat angefleht, meint: „Ei, do missese den Wech in Beddong leie, dann herts uff!“ Ist der Betonunterbau aber nicht frostsicher angelegt, so hebt in einem kalten Winter Väterchen den Weg an, an der Bruchstelle blüht und krabbelt es im nächsten Mai. Nicht Resignation, sondern Einsicht bewahrt den Eigentümer eines Plattenbelages vor unnötiger Arbeit.

Dottore meint: „Weißt Du eigentlich, dass der abgebildete Fugenkratzer in England hergestellt wurde?“

Pantalone, traurig: „Jetzt hast Du mir meine Vorstellung über Briten zerstört!“


Gewidmet der fast 90jährigen Nachbarin, die sich alljährlich abquält, weil „Ordnung muss sein!“


Nachtrag:


Um die Trauer über sein Vorurteil zu überwinden, hat Pantalone in seinem Bildarchiv gekramt und ist fündig geworden.  Schon vor Jahren erfreute ihn ein Anblick einer Parkplatzfläche so, dass er sie fotografierte; so kann man die Oberfläche fast lieblich nennen.


Donnerstag, 9. August 2012

Erst vergessen, dann versunken - ein ungerechtes Schicksal


Neben den bereits seit langem bekannten sieben Todsünden hat das 19. Jahrhundert eine achte hervorgebracht, den Nationalismus. Der Staatsbürger hätte mündig werden können, stattdessen verharrte er auf der Stufe des Zoon Koinon. Der Weg ging nach der Findung des Nationalismus daher nicht zu größeren Einheiten, sondern zu kleineren. Zwei Vielvölkerstaaten, auf ihren Gebieten sicherlich Vorläufer dessen, was gerade haarscharf am Scheitern vorbeisegelt, waren das Habsburger und das Osmanische Reich, entsprechend des damaligen Denkens mit dynastischen Namen bedacht. Die Habsburger Monarchie umfasste von Österreich ausgehend den nördlichen Teil des Balkans, daran schloss sich das Herrschaftsgebiet der Osmanen an, das je nach Status und Zeit sich von dort bis Aden erstreckte.

Zwischen 1529 und 1791 balgten sich die beiden Reiche um die Länder des Balkans, die von fremdsprachigen Menschen bewohnt waren. Deren Versuche zur Eigenstaatlichkeit wurden von beiden Mächten allenfalls ausgenutzt. So verlief mitten durch den Balkan die wechselnde Grenze. Die ihn durchwindende Donau war in Zeiten schlechter Straßen eine der Wege ins jeweils feindliche Gebiet. So baute die nördliche Macht auf einer mitten im Strom gelegenen Insel eine Festung, wobei sich ein schweizerischer Oberst in habsburgischen Diensten der Errungenschaften des französischen Marschalls Vauban bediente. Aber schon bald geriet die Insel in osmanischen Besitz, wechselte dann mehrmals die Herrschaft, jedoch blieb die türkischsprachige Besiedlung erhalten. Sie gaben der Insel auch den bleibenden Namen, Ada Kaleh, was schlicht Inselfestung heißt.


Die neue Todsünde wurde zur Legitimation dumpfen Freiheitsbegehrens, alle Gruppen, die sich als ethnisch verstanden, wollten nun frei sein. Die einzelnen Mitglieder der Herde des Sultans waren nun Albaner, Rumänen, Bulgaren, Serben, Ungarn, Bosnier, Griechen, und neideten sofort die anderen ihr jeweiliges Gebiet. Russland wollte – wie immer – zum warmen Meer, panslawistische Ideen vor sich her schiebend. Die politischen Konstellationen hatten sich also gewandelt. Widerwillig stimmten die bisherigen Machthaber des Balkans, meist nach kriegerischen Abläufen zu, es entstanden nun – der Zeit entsprechend – neue Monarchien.

1848 wurde der Aufstand der Ungarn unterdrückt, die Stephanskrone in Orsova, der damals ungarischen Nachbarstadt zur Insel, heimlich versteckt. Darüber und über die Insel berichtet Egon Erwin Kisch, der und im „Rasenden Reporter“; er stammte aus dem „behmischen“ Prag und viele seiner Artikel kreisen um Gegenstände im ehemaligen Habsburger Reich. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurde der Balkan zu Lasten des Osmanischen Reiches neu verteilt, aber Ada Kaleh schlicht vergessen. So blieb die Insel inmitten des Donaustromes in türkischem Besitz, die zollrechtlichen Gegebenheiten ermöglichten den Bewohnern ein einträgliches Auskommen. Der Sultan tauschte den alten Teppich der Moschee gegen einen neuen aus, eine dieser großartigen Herrschergesten, jedoch der Wert des alten Teppichs wird höher gewesen sein. Nun lag die Insel im Fluss mit serbischem (im Süden), rumänischem (im Nordosten) und ungarischem (im Nordwesten) Ufern. Im Weltkrieg I besetzten vorsichtshalber österreichische Truppen die Insel des Verbündeten, die Grafitti der Landsturmmänner betrachtete sich noch Kisch. Nach dem Krieg usurpierte Rumänien die Insel, die Zeit der Turkokratia des Balkans war endgültig vorbei (wenngleich die Saga von der Unterdrückung jahrzehntelang nicht nur als Entschuldigung, sondern gar als selbstgeglaubte Erklärung für nachfolgend anhaltende Unterentwicklung herhalten musste).


Noch einmal flammte türkisches auf: Süleyman Demirel, seinerzeit Ministerpräsident der Türkei und noch lange nicht so reich wie heute, verband einen Besuch Rumäniens mit der Stippvisite der Insel, wahrscheinlich musste er sich von der größten lebenden Wissenschaftlerin das geplante Stauwerk am Eisernen Tor erläutern lassen. Die Städte an den Ufern konnten mit ihren Häusern die Berge hinan klettern, um den ansteigenden Wassern der Donau zu entrinnen. Aber Ada Kaleh war flach, man kann in das felsige Ufer zum Eisernen Tor hin eine neue Tabula Ansata einmeißeln: CAUSA VIRES PRODUCENTIUM INSULA AQUIS SUBMERSA EST ANNO MCMLXXII.
      
„Am Grunde der Donau da ruhen die Steine, es gibt keine Festung auf Ada Kaleh“.

(Fraglich bleibt jetzt nur noch, ob die Erben Brechts – die Laxheit des Erblassers in Fragen des geistigen Eigentums schon lange negierend – wegen der vorstehenden Paraphrase urheberechtliche Ansprüche anmelden werden.)
  

Samstag, 4. August 2012

Als sich Pantalone und Dottore einmal gründlich irrten


Brecht betrauert in seinem Arbeitsjournal vom August 1941 den Tod von Walter Benjamin, [dessen Tod wohl auch dadurch mitverursacht wurde, dass er nicht genug und überdies zu marxistische Arbeiten aus Paris beim Institut im sicheren New York ablieferte]. Brecht fährt dann fort:
„und nun zu den überlebenden! ... auf einer gartenparty den doppelclown horkheimer und pollock getroffen, die zwei tuis vom frankfurter soziologischen institut. Horkeimer ist millionär, pollock nur aus gutem hause, so kann nur h(orkheimer) sich an seinem jeweiligen aufenthaltsort eine professur kaufen >zur deckung der revolutionären tätigkeit des institutes nach außenhin<.“

In der gesamten Frankfurter Schule ist trotz der Benutzung marxistischer Gedanken eine nicht überraschende Leere bei der Behandlung der Basis festzustellen, eben des gesamten ökonomischen Bereichs der Gesellschaft. Es ist doch um vieles edler, den Widersprüchen in Literatur und Musik nachzuspüren, als in die Niederungen einzutauchen, beispielsweise in die Beziehungen zwischen Ausbildung und Verwertungsinteressen, allenfalls mag man sich darüber mokieren, wenn ein Prüfling Hobbes wie ebbes ausspricht. Es war die Rebourgoisierung der dialektischen Vernunft. So blieb Pollock der einzige Ökonom der „alten“ Frankfurter Schule, allerdings logierte er im „Grand Hotel Abgrund“, nahm an der Pfingsttagung 1923 teil. Trotz des brechtschen Verdikts hat Pollock ein heute noch lesenswertes Buch geschrieben mit dem nichtssagenden Titel „Automation“. Er analysiert darin die Folgen der Einführung dessen, was heute mit EDV oder IT oder E oder sonstwie bezeichnet wird.

Keiner hat das Buch ernst genommen, die durch sie bedingte strukturelle Arbeitslosigkeit wurde auch von dem Weltökonomen Helmut Schmidt großkotzig übersehen. Sein damaliger Widerpart hat dazu im Bundestag einmal eine weise Rede gehalten, sich aber dann selbst als Kanzler einen Dreck darum gekümmert.

Als zu Anfang der 1980er Jahre die Vorteile der EDV im Bereich des Kleingewerbes durch die Erfindung des personal computer offenkundig wurde, da glaubten P&D diagnostizieren zu können, die weitere Entwicklung werde ähnlich ablaufen, wie zuvor von Karl Marx im 13. Kapitel des „KAPITALS“ beschrieben. Charly untersucht dort die Folgen der Einführung einer in unseren heutigen Augen völlig harmlosen „Maschinerie“, der Nähmaschine. Im London des Jahres 1864 bewirkte diese Veränderung in der Produktionssphäre die Arbeitslosigkeit zahlloser Weißnäherinnen, Verdrängungsabläufe innerhalb der Arbeiterschaft, Zwang zur Heimarbeit, manchmal sogar den Tod durch Verhungern.

Die Verwertung der Möglichkeiten dieser neuen Geräte schien den Beruf der Stenotypistin überflüssig zu machen, wenngleich er sich vor schon längere Zeit zu dem der Phonotypistin gewandelt hatte. Die Umwandlung von Sprache in Text geschähe in Zukunft mit solchen Geräten, das wäre nur eine Frage der Zeit, dachten P&D, ein auf ungenauer Analogie beruhender Schluss. Analogien werden leicht aufgebaut und -gebauscht, ohne dass man sich über die grundlegenden Voraussetzungen der zum Vergleich gezwungenen Lagen klar geworden ist.

Nicht alles, was Maschine genannt wird, muss mit dem Begriff der Maschinerie bei Marx übereinstimmen. Die Schreibmaschine stellt nichts weiter her als besser lesbare Texte, die ggf. vervielfältigt werden können. In alten Grundbuchakten findet man bisweilen noch äußerst präzise geschriebene Handschriften, eben in Kanzleischrift, auch sie ist gut lesbar, die Vervielfältigung geschah durch Abschreiben. Erst mit den Durchschlägen wird zur Maschine.

Die Banalität ist, ein PC zerfällt in Hard- und Software. Der Hardware kann man trauen, solange kein mechanischer Fehler auftritt, der aber macht sich massiv durch Ausfall bemerkbar. Die Software ist immer nur so schlau, wie sich der Programmierer das hat vorstellen können. Bei Knight Capital sollen am 1.08.2012 lediglich 45 Minuten fehlerhafter Software ausgereicht haben, um einen Verlust von $ 440 000 000,00 einzufahren. Erst eine stabile Software vermag es, den PC in die Sphäre der Maschinerie zu heben, beispielsweise eine wirklich perfekte Spracherkennung, denn selbst eine solche mit 99%iger Sicherheit macht alle zwei Zeilen eben einen Fehler, eine gute Phonotypistin auf einer Seite einen.    

Der seinerzeitige Fehler von P&D lag zum einen darin, den PC schlicht als Maschine anzusehen, dann darin, die Fähigkeiten der Programmierer zum Erstellen eines Spracherkennungsprogrammes zu überschätzen, schlussendlich aber darin, die Rationalität des Kapitalismus höher anzunehmen als sie tatsächlich ist. Denn betriebswirtschaftlich ist es äußerst schmählich, hochbezahlten Arbeitskräften (Redakteure, Ministerialräte, Professoren) einen Laptop in die Hand zu drücken, damit sie ihre Texte selbst niederschreiben. Diktierten sie, deren Sprache dann von Menschen in Text verwandelt würde, dann könnten sie selbst bei einem Überredigieren so viel mehr an Arbeit leisten, dass die Kosten der Schreibkraft mitabgedeckt würde und darüber hinaus ein mehr an Wert ihrer Arbeit entstünde. So aber sitzen in Zimmern und Stuben qualifizierte Menschen herum, die tippen, so blöd ist der Kapitalismus bisweilen. P&D hielten ihn für schlauer, aber man soll den Gegner besser über- als unterschätzen.

Für Amtmann Bieber, der uns – ohne das zu ahnen – das Diktieren aufnötigte.