Sonntag, 9. August 2020

Von der Klassenkampfparole zur Übermaßkritik

Kürzlich, es war noch vor der Explosion im Hafen, erschien ein Artikel in der FAZ, der versuchte, die Zustände im Libanon zu analysieren bzw. anhand von Beispielen aufzuzeigen. Seine Zweitunterschrift klang so, als stände sie in einer sozialistischen Zeitung, verwundert las man es zwei Mal, es war und blieb ein klassenkämpferischer Aufruf: 
„Die Mittelklasse stürzt ab, die Ärmeren leiden Hunger. Und die korrupte Oberklasse, die an der Misere Schuld ist, gönnt sich den teuren Whisky jetzt schon mittags.“ 
Der Wechsel zwischen abstrakter Feststellung bei der Darstellung der Situation der Unternommenen und der Konkretisierung des Verhaltens der Verursacher ist stilistisch fein und verrät Parteilichkeit.

Offensichtlich hatte der Chef vom Dienst diese Zeilen keinem der Herausgeber vorgelegt, er fand richtig, was der ortskundige Korrespondent da schrieb. Die Herausgeber eines Blattes werden ununterbrochen damit bestraft, die abgesonderten und dann gedruckten Texte sorgfältig lesen zu müssen, rasch wurde der Klassenkampf beendet. Zwar waren nun die unangenehmen Zeilen schon gedruckt, aber im Nachhinein musste alles wieder peinlichst gesäubert werden. Die Onlineverlautbarung wurde nachträglich zensiert, nun heißt es: 
„Der Libanon implodiert. Während Hunger und Angst vor neuem Blutvergießen um sich greifen, bleiben die Schuldigen ihren Gewohnheiten treu.“  
Damit ist nun jegliche Aussage kalmiert – der implodierende Libanon hatte es offenbar auf ein „EX“ abgesehen –, die objektiv beschissene Lage der Unter- und Mittelklasse verwandelte sich in subjektive Ängste, die drastische Schilderung über das Verhalten der „korrupten Oberklasse“ wich einer bräsigen Feststellung. Nicht das System ist falsch, sondern einige wenige halten sich nicht an die Spielregeln, sie haben das „Eiapopeia der Sozialpartnerschaft“ noch nicht verstanden. Dabei begreifen die Herausgeber nicht, dass sie auch nur nützliche Idioten sind – in den Augen derer, die auf der Klaviatur des Finanzkapitalismus ihre Etüden spielen. Sie sind eben keine Schirrmachers, sie sind nur erzreaktionär, aber nicht schlau. Und damit keiner der Anzeigenkunden und Leserbriefschreiber an dem Lapsus sich erinnern kann, wurde ein Bild draufgebappt:


Es scheint ein gewisses Chaos zu herrschen, aber das sind nur junge Leute, die mit ihren chinesischen Motorrollern umeinand fahren; so, als könnte ein tüchtiger Verkehrspolizist die Sache (Chaos im Libanon) mit Umsicht zügig regeln. 

In Wirklichkeit sind es offenbar die gleichen jungen Leute, die seit Tagen immer kräftiger gegen das libanesische System demonstrieren. Das Rumjuckeln mit dem Motorroller besänftigt die nicht mehr. Den Namen des Korrespondenten sollte man sich merken, er heißt Christoph Ehrhardt. Solche Menschen braucht die Welt.