Samstag, 18. Juni 2016

Respekt erweisen

Nehmen wir einmal an, in dem Altarbild der heizbaren Seitenkapelle eines Klosters nahe Mecheln würde man unter dem Ruß unzähliger Wachskerzen der letzten 300 Jahre ein Werk von Peter Paul Rubens entdecken, wobei es sich sogar herausstellte, dass es im Gegensatz zu fast allen anderen Arbeiten vollständig von dem Meister selbst gemalt wurde. Jeder wird und kann erwarten, dass das Bild von den Veränderungen der letzten Jahrhunderte „behutsam“ befreit, also zumindest die dicke rußige Schicht entfernt würde. Bei der Fehlstelle, wo am zweiten Advent 1784 eine Kerze durch die Unvorsichtigkeit des Küsters am Bild lehnte und dort die Leinwand leicht ankokelte, wäre eine sorgsame Bearbeitung angebracht, die zwar nicht zu einer Überrestauration führte, also noch diesen Makel sichtbar bleiben ließe, aber doch den Schaden etwas dämmte. Jeder dieser Schritte wäre ein Eingriff in das, was auf uns als Original überkommen ist, gleichwohl erwarten wir eine Pflege des Kunstwerkes, die es in einen Zustand versetzt, als wäre es während der gesamten Dauer seiner Existenz achtsam und würdig behandelt worden.

Wie gegensätzlich dazu werden uns die Bilder gezeigt, die auf andere Weise hergestellt wurden, nämlich Fotografien – oder um es in der Skription von Dottore zu fassen – Photographien. Je ramponierter das Bild, um so authentischer scheint es zu sein, jeglicher Dreckbatzen, der sich in den letzten 150 Jahren darauf breit gemacht hat, wird unbenommen präsentiert. Einen sachlichen Grund dafür gibt es nicht, im Gegenteil: Denn die neuzeitliche Technik – schließlich leben wir insoweit wirklich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes – ermöglicht es, den überkommenen Gegenstand vorzüglich zu kopieren, scannen eben. Die so gewonnenen Bilddaten lassen sich leicht und ohne jegliche Beeinträchtigung dessen, was wir nun einmal Original nennen wollen, so bearbeiten, wie das ein Restaurateur mit einem gemalten Bild machen würde. Bei dieser Erwägung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sogar auch die Gemälde der sog. Moderne schon heftigst restauriert werden müssen. Das ist notwendig, weil eben die Handwerkskunstfertigkeit bei den Malern der Neuzeit nicht mehr vorhanden ist, und besonders schwierig, weil verschiedenste Materialien verwendet wurden.

Das Ergebnis des Scannens kann zwischengespeichert, verändert und jeweils bewahrt werden, nichts ändert sich dadurch am Bestand. Man kann sogar danach trachten, Intensionen der Urheber des Bildes nachzugehen, die seinerzeit noch gar nicht umgesetzt werden konnten. Erweist man nicht so dem damaligen Hersteller die größte Reverenz?

Bei William Henry Fox Talbot, der seiner Mutter vielleicht nicht nur den findigen Teil seines Namens verdankt, ist dies besonders ärgerlich, ist er doch der Erfinder des Positiv-Negativ-Prinzips, folglich erfordern seine Produkte geradezu die Umsetzung aller Vorhaben und Pläne, die sie in sich bergen. Zwischen 1840 und 1846 sind die beiden Bilder entstanden, die zeigen sollen, wie umtriebig und variabel im Studio zu Reading gearbeitet wurde.



Die Bilder kleben inhaltlich förmlich aneinander, mit Sicherheit war es die Absicht des Photographen, seine umfassende Tätigkeit umfassend, also in einem Panorama darzustellen. Weder das Objektiv, noch die Camera, noch das Negativ ließen das damals zu. Also ist es doch nur eine Ehrerbietung an den auch sonst schöpferischen Geist des Fuchses, dies heute nachzuholen. Betrachtet man allerdings die inneren Bildränder genauer, so stellt man fest, von der Panoramafotografie war er noch entfernt.


Die grünen Zacken zeigen das identische Objekt, Dachecke und Regenrinne des Ateliergebäudes. An dem rot umrandeten Fenster erkennt man, zwischen den Aufnahmezeitpunkten hat die Bewohnerin das Fenster geschlossen, also gibt es eine zeitlich erhebliche Differenz. Setzt man den Oberdeckel der Camera mit dem darunter liegendem Fenster in Verbindung (gelber Strich), dann sieht man, beide Aufnahmen sind nicht von identischen Ort aus gemacht worden, aber diese liegen nahe beieinander. Am eklatantesten ist der Unterschied beim Bein des Meisters und der einen Camera, blauer Strich. Gleichwohl lassen sich die Bilder zu einem Panorama vereinen.


Und so steht den William Henry Fox Talbot – als Meister im Zentrum – in seinem Atelier, das eher einem Handwerksbetrieb ähnelt, und erzeugt sich selbst als einen der Ahnherren der Fotografie. Nur eine einzige der fast zahllosen Wiederholungen eines oder beider dieser Bilder im Netz erweist ihm eine vergleichbare Ehre, da hat sich ein Unbekannter der Mühe unterzogen, das Damals mit dem Heute zu vergleichen, daher sei es auch hier nochmals vorgeführt.


Die Bewohner der französischen Hauptstadt wären im 19. Jahrhundert gerne alle Flaneure gewesen, die Boulevards entlang- und dem Nichtstun nachgegangen. Die allermeisten jedoch mussten schlicht arbeiten, damit die Flaneure ihre namengebende Tätigkeit pflegen konnten. Ab und zu reichte es der arbeitenden Bevölkerung, der gallische Hahn war durch das sonntägliche Suppenhuhn noch nicht um sein krähendes Aufbegehren gebracht, dann ging der überwiegende Teil des Pariser Volkes seiner Lieblingstätigkeit nach, es baute Barrikaden, eine Tradition von 1789 bis 1968 (weil, das sei festgehalten, es kaum aus Lampenputzern bestand wie die östlichen Nachbarn). Und weil das solch eine schöne Sache ist, soll ein frühes Bild darüber gezeigt werden:


Nun sollte ein Bild eines solch schönen Ereignisses nicht so aussehen, als ob jemand mit Schrot darauf geschossen hätte. Also sind die Fehlstellen – „behutsam“ wie das angekündigt wurde – eliminiert worden.  Beide Barrikaden sind klar zu erkennen, vor der vorderen im Bild sieht man, woher die Steine der Barrikade stammen, aus dem Pflaster. Heutzutage ist man da umsichtiger: In Roulettenstadt ziehen sich Alleen mit Mittelstreifen durch die Innenstadt. Rechts und links dieser Mittelwege hatte man Kiesel ausgelegt, damit der Bewuchs im Zaume gehalten werde. Nun aber stand eines Tages die Beerdigung eines jungen Mannes an, der aus der Stadt stammte und in Bad Kleinen ums Leben gekommen war. Die Ordnungskräfte fürchteten, die Teilnehmer der Beerdigung könnten die Kieselsteine als Wurfgeschosse missbrauchen. Flugs wurden in einer Nacht- und Nebelaktion alle Kieselsteinfelder mit einer Lage von 10 cm Lehm abgedeckt. Dort sprießt seitdem das Kraut, auf diese Weise erweist denn die Stadt ihrem verlorenen Sohn bis heute den Respekt.


Immer wieder schwankt man zwischen Parteilichkeit und Objektivität, es wäre an der Zeit, dass dies kein Widerspruch mehr wäre (wird da nicht Hoffnung mit Illusion verwechselt?). Also die Korrektheit gebietet, den weiteren Verlauf, so wie er feststeht und auch im Bild festgehalten ist, darzustellen. Kurze Zeit später hat  in Paris die Schutzmacht der Flaneure die Ordnung wieder hergestellt, aber von dem Bild hat Pantalone nur den Himmel gesäubert!


So bleibt nichts übrig, als auf einen Text von Rosa Luxemburg zu verweisen:
»Ordnung herrscht in Berlin!« Ihr stumpfen Schergen! Eure »Ordnung« ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon »rasselnd wieder in die Höh' richten« und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!

Nun soll damit nicht der Stab über Flaneure gebrochen werden, Joseph-Philibert Girault de Prangey war sicherlich einer von ihnen, hat aber doch Bleibendes hinterlassen. Als junger Mann war er ein früher Photograph und hat auf seiner Grand  Tour im Orient einiges abgelichtet.  So hier ein Haus am Bosporus im Hintergrund und eine der damaligen Anglerhütten.


Nun bedingt nicht unsorgfältige Behandlung oder Lagerung allein derartige Verfärbungen, sondern die chemischen Vorgänge sind häufig trotz der Versuche der Fixierung weiter virulent und verändern das scheinbar Feste. Diese naturwissenschaftlichen Gegebenheiten sind aber kein Grund, die Gestaltung des Autors verkommen zu lassen.


Von der gleichen Stelle machte de Prangey zur Sicherheit noch eine Aufnahme, allerdings bat er seinen Reiseführer aus Albanien, vor dem Wasser die Fremdartigkeit zu steigern.


Der Reisende selbst zog sich nach der Reise auf sein Landgut zurück und privatisierte, lief dabei allerdings nicht auf den Boulevards der Hauptstadt nutzlos herum. Seine Erben oder Erbeserben entdeckten den Photoschatz und verhökerten ihn schnöde, wobei sie willkürlich die Bilder benamten. So wurde das nachfolgende Bild – auch bei dem Versteiger – falsch bezeichnet:
JOSEPH-PHILIBERT GIRAULT DE PRANGEY (1804-1892) 
150. Constantinople. 1843. Fontaine pris du T[emple] du Galat 
daguerreotype titled, dated and numbered in ink on a label (affixed to verso)
7½ x 9½in. (19 x 24cm.) 



Tatsächlich handelt es sich aber dabei nicht um einen Brunnen aus Konstantinopel (warum sollte der ein Minarett tragen?), sondern zuerst einmal um eine verdrehte Aufnahme.


Wer mit offenen Augen durch das westliche Kleinasien gereist ist, erkennt nun sofort, es handelt sich bei der Aufnahme um ein frühes Photo der Ilias Bey Çami aus Milet, die allerdings kürzlich heftigst restauriert wurde, was man dabei unter Restaurieren in der Türkei versteht. „Nur neu ist schön, die Geschichte des Bauwerks darf nicht sichtbar bleiben!“


Eine neuzeitliche Aufnahme – vor der Renovierung gemacht – zeigt die Identität des abgebildeten Objekts. (Mittlerweile ist das immer kürzer gewordene Minarett teilweise wieder errichtet, allerdings die Störche haben das Nest von den Faustinathermen nicht zurückverlegt). Vor mehr als 100 Jahren hatte der in Hamburg und in Smyrna tätige Photograph Krabow den Eingangsbereich abgelichtet,  mit bemerkenswerter Schärfe:


Die neuzeitliche Aufnahme –  aus dem Netz gefischt, um nicht immer die Eigen-Konkurrenzsituation aufkommen zu lassen –  ist mit einer Nikon D 50 angefertigt worden, diese Kamera benutzt einen APS-Sensor, der folglich eine Größe von 23,6 mm x 15,8 mm hat, also 122 mal kleiner, aber auch 172 Jahre jünger ist als das von Prangey verwendete Format. Bei einem Vergleich – Prangey/Panoramio/Krabow – ergibt sich eindeutig, die Stiftungsinschrift ist auf dem Bild von Krabow am besten zu erkennen, denn lesen werden es nur die Wenigsten können.






„Sag mal, Dottore, warum muss denn die Seitenkapelle Deines ominösen Klosters in Belgien heizbar gewesen sein?“

„Nun ja, in einem Kloster gibt es Priestermönche und Laienbrüder, die katholischen Priester sind seit jeher gehalten, einmal am Tag eine Messe zu lesen; im Winter in einer eiskalten Kirche, wo sogar der Messwein gefrieren könnte, eine harte Norm. Daher gab es gerne kleine heizbare Kapellen, in denen dieser Pflicht genüge getan werden konnte, zügig, gab es doch noch wartende Kollegen, obwohl zwei Messen am gleichen Tage am gleichen Altar nicht gern gesehen wurde.“

„Die Kapellen waren wegen der Heizbarkeit klein und wurden dann häufig benutzt, daher die Beaufschlagung mit Kerzenruß!“

„Das ist noch stärker in den Gotteshäusern der Ostkirche festzustellen, die fast alle bis in die 70er Jahre als schwarz getüncht galten, bis man daran ging, den Ruß der traditionell vielen Kerzen abzuwaschen, Du selbst hast doch in Chaironeia solch eine Probe fotografiert!“

„Darf ich das jetzt zeigen?“

„Na klar, warum denn nicht!“


„So viel an Zustimmung ist mir unheimlich, bist Du krank?“