Samstag, 28. Juli 2012

Nicht nur Frauen und Männer, auch Norden und Süden verstehen sich nicht


Griechenland braucht wieder frisches Geld, angeblich (das wird einmal in Ziffern geschrieben) € 30 000 000 000,00, die werden die Südländer wohl von den schlabbrigen Nordeuropäern auch erhalten. Wieder gegen das Versprechen, weiterhin zu sparen und die Infrastruktur in Ordnung zu bringen. Pantalone und Dottore unisoni sind davon überzeugt, dass die maßgeblichen Gesprächspartner auf der griechischen Seite fest, auch in ihrem tiefsten Innern, bei der Verabredung davon ausgehen, die Gegenleistung werde das Land erbringen. Aber schon beim Rückflug von Brüssel nagen die ersten Zweifel an ihnen, berechtigterweise! Dimitris bringt das in seinem Wahlkreis nicht durch, Nikolas steht beim Kreis der Bauxitproduzenten im Wort, Pavlos droht der Ausschluss aus der ihn bis dato stützenden Gewerkschaft. Und in Athen ist alles vergessen, zumal das Geld wieder in die Kassen der Banken im Norden fließen wird, so werden aus Staatsgeldern Bankzinsen.

Die im Norden verstehen die im Süden nicht. Das geht nur so:

„Ihr wollt die € 30 Milliarden, die bekommt Ihr auch, aber in Raten. Und zwar: 1 Milliarde, wenn Ihr ein funktionierendes Grundbuchsystem eingeführt habt – und wir dessen Funktionieren kontrolliert haben. 1 Milliarde, wenn Ihr von jedem Swimmingpoolbesitzer eine Sonderabgabe von € 7.500,00 beigetrieben habt – und wir das kontrolliert haben. 1 Milliarde, wenn Ihr in Thessalien eine funktionierende Finanzverwaltung aufgebaut habt, ohne einen einzigen neuen Mitarbeiter einzustellen, und erste Steuern verbucht habt – und wir das kontrolliert haben. Weitere 12 Milliarden jeweils dafür, wenn Ihr das gleiche in den 12 anderen Regionalbezirken geschafft habt– und wir das kontrolliert haben. 1 Milliarde, wenn eine effiziente statistische Institution aufgebaut ist – und wir das kontrolliert haben. Die Bedingungen für die restlichen 15 Milliarden denken wir uns nach den kommenden Gegebenheiten noch aus!“
„Das ist mit dem Stolz des griechischen Volkes und der Souveränität des griechischen Staates nicht vereinbar!“
„Wenn man unter Souveränität die Fähigkeit zur Selbstbestimmung begreift, dann bestimmt doch selbst. Ihr wollt Geld, weil Ihr über Euch nicht mehr selbst bestimmen könnt! Wäret Ihr nicht abhängig, dann wäret Ihr nicht hier in Brüssel, sondern könntet in Athen über Eure Kasse selbst bestimmen.“
„Aber der Stolz der Griechen erträgt das nicht.“
„Stolz ist kein andauernder Zustand, sondern allenfalls ein immerwährendes Ziel. Zum Stolz werden die Griechen berechtigt sein, wenn Steuerzahlen wieder eine erstrebenswerte Tugend ist, der man geachtet nacheifert. Ihr beruft Euch auf bei vielen Gelegenheiten auf die Bewohner des antiken Griechenlands. Nehmt Euch an ihnen ein Beispiel: auf vermögenden Menschen lastete die soziale Pflicht, die zugleich auch eine Ehre war, bestimmte finanziell aufwändige Unternehmen für Staat und Gesellschaft zu übernehmen, die Liturgien. Man unterhielt dann eine Triere für die Flotte, deren Ruderer trainiert werden mussten, man sponserte eine Theateraufführung. Das zeichnete die Griechen damals aus, darauf beruhte ihr staatsbürgerlicher Stolz. Aber auch das wurde kontrolliert, beispielsweise bei Salamis und in Plataiai.“
„Wir merken, Ihr wollt uns nicht verstehen.“
„Wir verbinden die Hingabe des Geldes nicht mit Forderungen, die außerhalb der Wirtschaft liegen, so wir verlangen beispielsweise nicht die vernünftig erscheinende Anerkennung Mazedoniens. Wir bleiben geneigt und umgänglich, sind aber von nun auch entschieden und eindeutig, das schulden wir nämlich unseren Souveränen, den Völkern unserer Bürger.“

Wetten, das würde klappen!

Es ist schon schlimm, wenn man gezwungen ist, reaktionär zu denken oder gar zu handeln. Aber 10 % des angesammelten Privatkapitals der bislang faktisch von den Steuern befreiten Griechen reichte aus, um das Land aus der Misere zu befreien, wo ist da der vaterländische Stolz? 

Donnerstag, 26. Juli 2012

Sebah 14 und das Erechtheion


 – Ein Rundgang um den Tempel mit Unterbrechung –

Die Meder verstanden sich aufs Rachenehmen. Als das bis dahin immer perserfreundliche Milet den Ionischen Aufstand auf der Seite der Persergegner mitmachte, wurde es von den Persern nach der Eroberung fast gänzlich zerstört, wahrscheinlich wurden die Milesier noch gezwungen, diese Arbeit für sie auszuführen. Das auf dem Zeytintepe liegende Heiligtum – der Aphrodite geweiht – ist kaum noch aufspürbar: Da sind zum einen die Felsabarbeitungen für die Fundamente, die auf einen größeren Tempel schließen lassen, zum anderen aber 20000 Stücke weißen Marmors, keines größer als eine Männerhand, so ließen die Meder das Heiligtum zerkleinern. Als der Dichter Phrynichos seine Tragödie „Mıλήτου άλωσις aufführen ließ, berührte dies die Zuschauer so, dass sie in Tränen ausbrachen. Daraufhin wurde das Stück verboten, Phrynichos mit einer Strafe von 1000 Drachmen belegt, weil er das Unglück der Hellenen für sich genutzt habe.

Nach dem Sieg der vereinigten Griechen bei Plataiai sollen sie einen Eid abgelegt haben, alle von den Persern zerstörten Heiligtümer als Mahnmal stehen zu lassen, sie nicht wieder aufzubauen. Jedoch waren Teile ihrer Heiligtümer oft aus Anlass eines kriegerischen Erfolges errichtet worden, so die sog. Marathonbasis in Delphi, eventuell der Vorparthenon. Eine teilweise Identität von Politik und Religion hätte ihnen also nicht fremd sein dürfen, das Vorgehen der Perser auf Verständnis, nicht Billigung, stoßen müssen.

Die Griechen hatten im Verhältnis zu der von ihnen geschaffenen Philosophie eine geradezu läppische Religion mit einem Obergott, der danach strebte, bei anderen Wesen jede Körperöffnung wenigstens zeitweise zu füllen. Als Ausgleich dazu blühte auch bei ihnen ein Jungfrauenkult, hier war es die Göttin Athene, die zur Edeljungfrau avancierte. Nun ergab es sich, dass nach der Zerstörung der Akropolis durch die Perser einige alte Stätten dort wieder genutzt werden sollten, Eid von Plataiai hin oder her, was gebb isch uff mei dumm Geschwätz vunn gestern!

Neben dem alten Athenatempel, dort wo jetzt das Erechtheion steht, lagen geheiligte Orte; viel musste dort untergebracht werden:
Zuerst einmal das uralte Xoanon der Athene,
dann lag dort das Dreizackmal im Fels, von Poseidon geschlagen,
als Gegenpol der Ölbaum der Athene,
nun sollte auch der allerhöchste Zeus nicht zurückstehen, also ein kleiner Altar für Zeus Hypotos,
das Grab des Kekrops befand sich dort,
des Heros Butes musste gedacht werden, der aus der Dynastie der allertreuesten Butaiden stammte,
für die dappische Pandrosos sollte auch ein Gedenkplätzchen vorhanden sein,
um das Dreizackmal rauschte das Meer des Erechthonios,
schließlich musste noch eine Verehrungsstätte für Zeus Herkeios, den Herdbewahrer, her; das Ganze noch auf abfallendem Felsareal.

Sogar in einem Rundbau hätte man das alles nicht unterbringen können, geschweige denn in einem so strengen Bau wie dem  griechischen Tempel. So musste der Architekt der Zeit vorauseilen, er baute nach dem Prinzip: form follows function. Ein Megaron ohne Anten wurde mit seitlichen Prostylos weiter unten verbunden, hinzu kam eine Halle mit anthropomorphen Stützen, vielleicht wollte er das Megaron noch spiegeln, aber der Nikiasfrieden währte nicht so lange. So setzt das Bauwerk, das später Erechtheion genannt wurde, am treffendsten die These um, der griechische Tempel sei kein eigentlich Haus der Götter, sondern immer nur ein Behältnis für sie, allerdings in der veredelten Form eines übergroßen menschlichen Hauses. Im Deutschen gibt es dafür das Wort Gehäuse, Schnecken wohnen in solchen, warum nicht auch griechische Götter und andere Idole.


Auf seinem Ausflug nach Athen versuchte Pascal Sebah 1873 (ca.) sich bei den Archäologen beliebt und seine Bilder verwertbar zu machen. Ebenso wie auf der Aufnahme des Hadriantores ist auf sechs der gezeigten Bilder ein Maßstab mit abgelichtet, dessen genaue Länge rätselhaft bleibt. Die Bilder müssen wegen des noch stehenden Frankenturmes vor 1875 gemacht worden sein, die verbindliche „internationale Meterkonvention“ wurde erst im Mai 1875 verabschiedet, das Längenmaß gab es schon seit der Französischen Revolution. Um zu verifizieren, ob der Maßstab metrisch ist, müsste man den umgekehrten Weg gehen: Auf Bild 11 ist er am klarsten abgebildet, wenn man die Höhe der Stufen kennte, dann könnte man seine Länge rekonstruieren.


Im Jahre 408/07 rechnete die Baukommission Arbeiten am Erechtheion ab, das musste nach dem Verständnis der athenischen Demokratie öffentlich geschehen. Also wurde das zuerst auf Holztafeln festgehalten und gezeigt, später in Stein verewigt. Zu lesen ist auf den teilweise erhaltenen Inschriften:
„Steinarbeiten: für die Kannelierung der Säulen auf der Ostseite gegenüber dem Altar. Die dritte vom Altar der Dione aus gesehen:
Ameiniades, der im Demos Koile wohnt, 18 Drachmen;
Aischines, 18 Drachmen;
Lysanias, 18 Drachmen;
Somenes, Sklave des Ameiniades, 18 Drachmen;
Timokrates, 18 Drachem;
….
Simias, der in Alopeke wohnt, 13 Drachmen;
Kerdon, 12 drachmen 5 Obolen;
Sindron, Sklave des Simias, 12 Drachmen 5 Obolen;

Und so geht es steinelang weiter. Bemerkenswert ist, dass die Arbeit der Sklaven genauso bewertet wird wie die ihrer Eigentümer, nicht nur der Hobel, sondern auch die Arbeit „macht alle gleich“, aber nie frei. Es wird Stücklohn gezahlt, die notwendige Sorgfalt bei der Arbeit verbietet Akkordlohn. Einer der Sklaven trägt einen persischen Namen, Gerys, man scheint nicht nachtragend gewesen zu sein, kein „der kemmt mir nich uff die Baustell!“


Von den ehemals sechs Säulen standen damals nur noch 5 am alten Platz, die rechte hatte Lord Elgin mitgenommen. Zugleich erkennt man den Höhenunterschied zwischen Ost- und Nordseite, wo eines der zierlichsten Säulengebilde entstanden war. Dort, wo einst der Altar für den obersten Zeus gestanden hatte, gähnte ein Loch.


Hier hat Pascal Sebah wohl gepatzt, das Bild endet oben inmitten des Zierfrieses des Türsturzes. Rechts lehnt ein Teil der Kassettendecke, in der Mitte kann man bis in den Untergrund der Korenhalle durchblicken, die unterschiedliche Färbung der Türgewände rührt von dem Algenbesatz her, der sich an dem ausgegrabenen Teilen noch nicht festgesetzt hatte. Hinter der Türschwelle kann man auf die Kuppe eines Gewölbes sehen, das bei den römischen Umbauten – über dem Meer des Erechthonios – eingebracht wurde.


Der damalige Bauzustand ermöglicht die Sicht auf die Seite eines der Steinbalken, die auf der Wand und den Epistylen aufliegen und die ihrerseits die Kassettenteile der Decke tragen. Auch kann man einige der unklaren Ansätze erkennen, die zu der Vermutung führten, es sei noch ein Westflügel geplant gewesen.


Ein anderer großer Fotograf wurde von der Nordhalle angezogen, hier nahm er die Basen der Säulen auf: Walter Hege. Er lief mit einem Teleobjektiv herum, das wegen der Größe des Bildformates riesig war, er nannte es „Kanone“. Diese war im Gegensatz zu der des lüneburgischen Artillerieoffiziers nützlich, segensreich.


1873 war der obere Teil der Westwand nicht zu sehen, er war nach einem Sturm eingestürzt, die ge-elginte Karyatide ersetzt, jedoch das Dach durch Metallstützen abgesichert. Im Vordergrund breitete sich noch eine bewachsene Erdschicht aus, noch war nicht jedes Körnchen der Erde durchgesiebt, noch steckten die Fundamente des alten Athenatempels in ihr.


Heute fällt der Blick vom gleichen Standpunkt auf ein vollständigeres Gebilde, die Koren sind durch hohle Abgüsse aus Marmorstaub ersetzt, die in sich Metallstützen bergen. Die Westwand steht mit den römischen Fensterfüllungen da, der Nordbau ist fast gänzlich wieder auferstanden. Betreten kann man das Bauwerk nicht mehr, mit Sicherheit würden die Sohlen der unzähligen Besucher den Boden nicht nur ab-, sondern tiefschleifen.


Da bot sich Dodwell zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein anderes Bild. Die Elginkore war durch einen Pfeiler ersetzt, aber die Westwand stand noch. Welcher Zeitpunkt in der Geschichte eines Bauwerkes ist für die Anastilosis der maßgebende? Welcher Zustand soll wiedererstehen? Der Wiederaufbau der Akropolis wurde durch eine eigens einberufene internationale Konferenz abgesegnet, es war aber auch ein Dammbruch. Jetzt verweist jeder auf die Akropolis und zieht aus ihrer Anastilosis Rechtfertigung für sein Agieren.

Übrigens: Im Hintergrund sieht man auf Dodwells Bild eindeutig, wie brutal die osmanische Besatzung die Turkokratia betreibt, nämlich durch Musizieren.

Das Konzert in Köln hatte nicht nur für die DDR weitreichende Folgen, auch für den Sänger selbst ergaben sich Veränderungen: er war den Reisebeschränkungen entronnen. Angesichts der Korenhalle konnte ihm nun einfallen:

Sieh an, mein Freund, die Leichtigkeit
Mit der die Fraun es tragen
Das Tempeldach auf ihrem Kopf
Sie stehn da, schön geschlagen
Von schwerer Männerhand
In Stein.

Die Korenhalle erlaubte den osmanischen Besetzern der Akropolis eine naheliegende Assoziation, Frauen am Haus, also Haus für Frauen, also Harem. Übrigens, hier zeigt sich wieder einmal die nationalistische Komponente der Archäologie. Bei der letzten Restauration des Bauwerks wurden von den in unterschiedlichen Epochen weiterbearbeitete Steinen zwar die byzantinischen wiedereingebaut, die unter osmanischer Herrschaft bearbeiteten nicht. Selektive Wahrnehmung ist nicht nur ein individuelles Phänomen.

Über die Karyatiden gibt es zwei Versionen, nach der einen seien es die in die Sklaverei verkauften weiblichen Einwohner der perserfreundlichen Stadt Karyai, die nun zur Strafe schwere Arbeit leisten mussten, die Männer hatte man gerichtet. Die andere Version schmeckt Dottore besser: In Karyai gab es ein Heiligtum der Artemis, beim alljährlichen Fest tanzten die jungen Mädchen des Ortes so schön einen Reigentanz, dass ihre Haltung zum Inbegriff des aufrechten Schreitens wurde. Vergleicht man die Statuen mit Vasenbildern, auf denen Frauen auf dem Kopf das Wasser in Krügen von der Krene nach Hause tragen, so ist eine große Gleichheit festzustellen. Und ob man das Gebäude mit ehemals perserfreundlichen Frauen schmückte, die dann sehr aufrecht und fast stolz dargestellt sind, erscheint doch wenig plausibel.


Hier mischt sich Pantalone ein: „Also, ich finde, die sehen doch alle sehr stabil und fast bäuerlich aus. Mein Schönheitsideal ist das nicht!“

„Nun denn, die Griechen unterschieden bei Frauen zwischen denen, die ihre Lust erweckten und bisweilen befriedigten, und solchen, die sie heiraten wollten. Die mussten die Last vieler Geburten aushalten, darüber  hinaus auch kräftig genug sein, um die alltägliche Arbeit im Haus zu bewältigen. Zu diesen Frauen zählen wohl die Mädchen aus Karyai.“

„Ich weiß zwar, dass Du es mit dem alten Ägypten nicht so hast, aber dort gab es das, was der Kölner en lecker Mädche nennt. Die Statue zeigt so eine!“


„Ausnahmsweise hast Du recht, die könnte sogleich über den Laufsteg bei Karl Lagerfeld schweben, ich werde meine Distanz zum alten Ägypten überdenken.“

 
Für Wolf, den ich bei Jule Hammer unbesonnen fragte.                             

Mittwoch, 18. Juli 2012

Das unterdrückte Zitat als Indikator des unterdrückten Denkens

Statt sich durch die vielen Bände der „les guides bleus“ zu quälen, kann man die Kurzfassung von Engels selbst lesen, die da lautet: Herrn Eugen Dühring`s Umwälzung der Wissenschaft“. Dort schreibt er in den Jahren 1876 bis 1878 auf Seite 167/8:

„Aber das eigne Gemeinwesen und der Verband, dem es angehörte, lieferte keine disponiblen, über-schüssigen Arbeitskräfte. Der Krieg dagegen lieferte sie, und der Krieg war so alt wie die gleichzeitige Existenz mehrerer Gemeinschaftsgruppen nebeneinander. Bisher hatte man mit den Kriegsgefangnen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der »Wirtschaftslage« erhielten sie einen Wert; man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar. So wurde die Gewalt, statt die Wirtschaftslage zu beherrschen, im Gegenteil in den Dienst der Wirtschaftslage gepreßt. Die Sklaverei war erfunden. Sie wurde bald die herrschende Form der Produktion bei allen, über das alte Gemeinwesen hinaus sich entwickelnden Völkern, schließlich aber auch eine der Hauptursachen ihres Verfalls. Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomi-sche, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Skla-verei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus“.

Dann weiter auf Seite 168/9:
„Es ist klar: solange die menschliche Arbeit noch so wenig produktiv war, daß sie nur wenig Überschuß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der Produktivkräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte, und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten. Die einfachste, naturwüchsigste Form dieser Arbeitsteilung war eben die Sklaverei. Bei den geschichtlichen Voraussetzungen der alten, speziell der griechischen Welt konnte der Fortschritt zu einer auf Klassengegensätzen gegründeten Gesellschaft sich nur vollziehn in der Form der Sklaverei. Selbst für die Sklaven war dies ein Fortschritt; die Kriegsgefangnen, aus denen die Masse der Sklaven sich rekrutierte, behielten jetzt wenigstens das Leben, statt daß sie früher gemordet oder noch früher gar gebraten wurden.“

Also keine moraltriefende Onkel-Toms-Hütte-Würdigung, sondern kühle Analyse, beruhend auf den Einsichten der „sozialökonomischen Scheiße“, wie das Marx gelegentlich (in seinen Briefen) auszudrücken pflegte.

Beim Durchdeklinieren seiner Diskurstheorie verfiel Jürgen Habermas auch auf das RECHT, zur Kunst hatte er keinen Draht, die Musik hatte Teddie schon besetzt, außerdem musste er dem ursprünglichen Juristen Luhmann mal zeigen, was eine Harke ist. Dementsprechend sonderte er für diesen Bereich ein Buch ab. Dottore findet es mies, weil er in ihm nicht vorkommt. Nein, nicht persönlich, aber seine frühere Berufstätigkeit wird ausgespart. Denn nicht der immerwährende „Kampf ums Recht“, der alltäglich zwischen Bürgern und Unternehmen, zwischen Anwälten und Richtern schriftlich und mündlich stattfindet, wird philosophisch überhöht, sondern wieder einmal spricht der Weltgeist nur mit sich selbst – das hatten wir doch schon bei Hegel! – getreu der Habermas´schen Maxime: Bedeutsam, aber politisch folgenlos. So eben, als hätte es die 11. These über Feuerbach nie gegeben.

Nun bezieht sich Habermas in „Faktizität und Geltung“ immer wieder auf John Rawls, der seine Vorstellung von Gerechtigkeit aus der Fairness entwickelt. Für Dottore tauchte dieser Begriff zuerst im Englischunterricht auf: Im 19. Jahrhundert frönten junge englische Adlige dem Faustkampf. Sie betrachteten es als ausgesprochen unfair, wenn an einem solchen Wettkampf jemand teilnehmen wollte, der seine Muskeln normalerweise dafür benutzte, körperliche Arbeit zu verrichten. Und es ist doch wirklich unfair, wenn ein Bergarbeiter dem jungen Earl die Fresse poliert!

Aber auch das ist nicht Hauptgegenstand dieses Post, der wie üblich weitschweifig ist. (Diese Weitschweifigkeit kann ein später Reflex auf den mehrere Jahrzehnte währenden Zwang sein, sich in den Schriftsätzen kurz und präzise auszudrücken, also die Umkehrung einer deformation professionelle.) Nun aber zu Rawls. Der schreibt in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ auf Seite 280:

„Ich habe vorausgesetzt, daß stets für die, welche die geringste Freiheit haben, ein Ausgleich geschaffen werden muß. Die Situation ist stets von ihrem Standpunkt aus zu beurteilen (und zwar aus der Sicht der verfassungs- oder gesetzgebenden Versammlung). Diese Einschränkung macht es nun so gut wie sicher, daß Sklaverei und Leibeigenschaft, jedenfalls in ihren bekannteren Formen, nur dann hinzunehmen sind, wenn sie noch schlimmere Ungerechtigkeiten beheben. Es könnte Übergangsphasen geben, in denen die Sklaverei besser wäre, als die herrschenden Verhältnisse. Man nehme zum Beispiel an, Stadtstaaten, die bisher keine Kriegsgefangenen machten, sondern jeden Gegner töteten, kämen vertraglich überein, stattdessen die Gefangenen als Sklaven zu halten. Man kann nun die Sklaverei nicht mit der Begründung zulassen, die Vorteile einiger überwögen die Nachteile der anderen; doch unter diesen Umständen, da alle der Gefahr der Gefangennahme im Kriege ausgesetzt sind, ist diese Form der Sklaverei weniger ungerecht als die bisherige Praxis. Zumindest ist der Sklavenzustand nicht erblich (das wollen wir annehmen), und er wird von den freien Bürgern mehr oder weniger gleicher Stadtstaaten akzeptiert [auch von den Meliern??]. Diese Regelung dürfte als Fortschritt gegenüber den bisherigen Gepflogenheiten vertretbar sein, falls die Sklaven nicht zu hart behandelt werden. Mit der Zeit wird sie wahrscheinlich ganz aufgegeben werden, denn der Austausch der Kriegsgefangenen ist doch wünschenswerter, die Rückkehr der gefangenen Mitglieder der Gemeinschaft ist den Dienstleistungen von Sklaven vorzuziehen. Doch keine dieser Erwägungen, so phantasievoll sie auch sein mögen, versucht die erbliche Sklaverei oder Leibeigenschaft aufgrund natürlicher oder geschichtlicher Beschränkungen zu rechtfertigen. Ebensowenig kann man sich an diesem Punkt auf die Notwendigkeit oder wenigstens den großen Vorteil solcher Knechtschaft für die höheren Formen der Kultur berufen.“

Statt die Widersprüchlichkeit des geschichtlichen Ablaufes zu begreifen – wie die bei Engels geschieht – tut Rawls so, als könne man sich einmal möglicherweise zu einer zeitweiligen Sklaverei verabredet haben, was dann sogleich liberal und selbstredend undialektisch kalmiert wird. Seine Anti-Engelspassage lebt von der klaren Darstellung des indirekt Kritisierten, die er sich aber selbst als „phantasievoll“ zuschreibt, er zitiert oder widerlegt Engels nicht, er zernutzt ihn. Warum aber setzt Rawls kein Zitat oder nennt seinen Widerpart? Er musste davon ausgehen, erhebliche Teile seiner Leser kennten den Ursprungstext. Eine rein zufällige Überschneidung scheidet aus, weil die Vertragspartner – „die Stadtstaaten“ – unmittelbar an den Ausgangstext anschließen, zudem wird dem Ergebnis der Engels´schen Betrachtung ausdrücklich widersprochen. Es bleibt nur ein absichtsvolles Verschweigen der Quelle. Unredlichkeit wird man einem Autor nicht unterstellen dürfen, der sich seitenlang über Fairness verbreitet, zudem hat sich Rawls während seiner Militärzeit aus achtenswerten Gründen der Offizierslaufbahn widersetzt.

Der Text erschien 1971, also fast 100 Jahre nach Engels, „by the President and Fellows of the Harvard College“, wo Rawls Professor für Philosophie war. Trotz seiner Position erschien es ihm tunlich, einen der Väter der Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem zu unterschlagen. Die Universität von Harvard ist von Spenden aus der „Wirtschaft“ abhängig, die Spender hätte es irritiert, wenn an ihrer Universität jemand mit Marxismus ernsthaft sich beschäftigt. Auch haben die Vereinigten Staaten das Denken aus der Ära des McCarthy nie gänzlich überwunden, wie aus der für uns schier unglaublichen Klassifizierung von Obama durch seine politischen Gegner als sozialistisch erkennbar ist. 

Aber, lieber Rawls, die Furchtsamkeit (nicht die unklare Angst) vor der Entdeckung der Ideenquelle, also die soziale Realität, hat auch Dein Denken beeinflusst, so wie seinerzeit die soziale Realität das Denken der sklavenhaltenden Philosophen im antiken Griechenland prägte, Diogenes ausgeschlossen, dem jedoch nichts anderes übrig blieb, als zynisch zu sein. 

Pantalone meint: "Erstens so eine lange Pause, zweitens keine Bilder, drittens, warum hackst Du so auf Habermas rum?" 

"Beim nächsten Mal kannst Du Deine Bilder unterbringen. Das mit Habermas hängt mit dem Juni 1968 zusammen. Nach dem Vorwurf des Linksfaschismus konnte er sich beim sog. Schülerkongress am 1. Juni eigentlich nicht sehen lassen. Um von der vor Unmut brodelnden Menge nicht am Vortrag gehindert zu werden, eröffnete Habermas seine Rede mit den Worten: "Ich bin mir mit den hier Anwesenden doch einig, dass die Zukunft der Bundesrepublik in einer sozialistischen und demokratischen Politik liegt!" Sozial hätte er nicht sagen können, dann wäre er ausgebuht worden. Obwohl der gedruckte Text seiner Ausführungen nicht auf seinem Manuskript allein beruht, sondern auch auf weiteren, mündlichen Ergänzungen, hat er den Eingangssatz immer unterschlagen. Entweder er hat gelogen oder es war ihm peinlich. Beides ist verachtenswert. Dass er als Nachfolger von Thielecke den Bundesbedenkenbewahrer abgegeben hat, ändert nichts daran." 

"Woher weißt Du das denn?" 

"Ich war dabei, die vorne agierenden linken Widersacher werden sich auch noch daran erinnern. Auch sie konnten nur den kastrierten Text übernehmen." 

"Dass die Linken sich immer so zerfleischen müssen!" 

"Zum einen ist Habermas nicht links, zum anderen haben sich im Frühchristentum die einzelnen Gruppen genauso befehdet." 

Für Rainer, der das Anspucken des französischen Landadligen rechtfertigte.