Freitag, 11. Februar 2011

DEUS EX MACHINA

In griechischen Dramen wurde dann, wenn die Situation durch Schuld und Verstrickung der Handelnden so unlösbar erschien, dass nur eine Katastrophe folgen konnte, eine Lösung dadurch ermöglicht, dass ein plötzlich in das Geschehen eingreifender Gott die Geschicke aller zu einem guten Ende führte. Um nun den Gott gleichsam einschweben zu lassen, ließen die Griechen ihn von dem Skenengebäude an einer Art Kran – das ist die MACHINA - herunter mitten in die Spielfläche, die Orchestra.

Von den antiken Theatern ist meist das Skenengebäude zerstört, wobei auch noch zu berücksichtigen ist, dass derartige Gebäude erst in hellenistischer Zeit, also meist erst ab dem 2. Jahrhundert vor Chr. als feste Bauten errichtet wurden; vorher wurden fast immer Holzgerüste aufgebaut. Aber, in einigen Theaterruinen, so beispielsweise in dem von Priene in Ionien, haben sich die dafür vorgesehenen Teile im Bauwerk des Skenengebäudes erhalten, so dass auch heute noch fassbar ist, wie denn damals die Rettung über eine lift- und kranartige Apparatur hereinschwebte.

Anfang der achtziger Jahre hatte Dottore ein Scheidungsmandat, das sich ausgesprochen schwierig gestaltete. Ein werdender Diplomingenieur hatte sich in eine Professorentochter – ob mit oder ohne Berechnung – verguckt und sie auch geheiratet. In seinem beruflichen Leben entdeckte der Ehemann nun, dass die Herkunft seiner Gattin dort nichts mehr wert war, zudem hatte der Professor seine Gene nicht an seine Tochter vererbt, sie war harmlos. Der bei Big Blue arbeitende Diplomingenieur strebte aus der Ehe, dem Professorentöchterchen zerbrach ihre Welt. Sie saß in der abgedunkelten Wohnung mit den zwischenzeitlich geborenen zwei Kindern und war am Rande einer Psychose. Ihr Papa nahm die Sache in die Hand, kam mit ihr zu Dottore, der Scheidungsantrag war seiner Tochter schon zugestellt.

Rasch stellte Dottore fest, dass der Vortrag der Gegenseite nicht unzutreffend schien, dass nämlich durch die psychische Situation der Mutter auch die Kinder gefährdet sein konnten, wer konnte schließlich mit Sicherheit sagen, dass sich Frau Bamberger, so will ich sie einmal nennen, nicht das Leben nehmen würde und dabei die Kinder „mitnähme“. Natürlich habe ich als ihr Anwalt alles bestritten, aber erlitt eine herbe Niederlage, als Frau Bamberger völlig unentschuldigt und auch, ohne mich benachrichtigt zu haben, zum Gerichtstermin nicht erschien. Dies nahm die Richterin zum Anlass, mich darauf hinzuweisen, dass sie bei einem weiteren Ausbleiben doch wohl davon ausgehen müsse, dass der Vortrag der Gegenseite zutreffend sei.

Zudem kamen mir selbst Zweifel, ob nicht die Kinder tatsächlich gefährdet seien. Grundsätzlich war und bin ich der Ansicht, dass Kinder auch vom Vater betreut und erzogen werden können, da aber der Herr Bamberger ziemlich gelackt und unsensibel auftrat, zudem seine neue Lebensgefährtin, bei der die Kinder dann hätten aufwachsen müssen, ebenfalls einen unangenehmen Eindruck auf mich machte, wäre der Wechsel für die Kinder sicherlich nicht günstig gewesen. So machte ich mühsam die Adresse des Professorenpapas ausfindig und telefonierte mit ihm, letztlich hinter dem Rücken meiner Mandantin. Wir waren uns in der Sorge um seine Enkelkinder einig und er beschloss daher, seine Tochter zu veranlassen, zu ihm und seiner Frau in sein großes Haus zu ziehen, was auch geschah.

Als ich die Ladung zum nächsten Termin erhielt, habe ich veranlasst, dass Papa mitkam. Schon um 9 Uhr waren Vater und Tochter bei mir, gemeinsam haben wir sie, die tatsächlich in psychischer Hinsicht äußerst wacklig war, seelisch aufgepäppelt - fast zwei Stunden lang. Ich spielte ihr mehrmals den genauen mutmaßlichen Ablauf der Verhandlung vor, die Sitzordnung wurde vorgestellt, jede mögliche Frage der Richterin und der Gegenseite wurde ausgedacht und die jeweiligen Antworten eingeübt. Papa und ich behandelten sie so, wie ein Boxer vor dem Kampf aufgebaut wird. Fast eine Katastrophe war es, dass Papa nun in die Sitzung des Familiengerichtes nicht mitgehen durfte, sind doch derartige Sitzungen nichtöffentlich. Auch diese Schwierigkeiten wurden durch gütliches Zureden überwunden, zumal Papa fest zusagte, mit zum Gericht zu gehen und vor dem Sitzungszimmer zu warten.

Schweren Herzens und doch noch etwas unsicher machten wir drei uns zum Termin auf. Nach dem üblichen Warten öffnete sich die Tür des Sitzungszimmers, der vorhergehende Termin war zuende, unter anderem kam ein ostentativ gebräunter Mann mit hinaus, der mir irgendwie bekannt vorkam. Darüber wollte ich aber nicht nachdenken, sondern lud Frau Bamberger ein, nun das Sitzungszimmer zu betreten. Die aber schaute mich mit dem höchsten Ausdruck von Seligkeit an und stammelte: „Das ist der Claus Seibel!“ worunter ich mir immer noch nichts Bestimmtes vorstellte. Nur bemerkte ich, dass meine Mandantin sich schlagartig von der verzagten Professorentochter in eine souveräne Dame verwandelt hatte, die eine kleine Lästigkeit zu erledigen hatte. In der Verhandlung hielt sie sich nicht an die eingeübten Rede- und Antwortspielchen, sondern setzte dem Gericht mit eigenen Worten geradezu locker auseinander, wie ihre jetzigen Lebensverhältnisse seien, sämtliche Trauer und Verzweiflung waren verflogen. Die Richterin rügte fast die Gegenseite, da doch Frau Bamberger eine solch tüchtige und selbstsichere Frau sei. Sie, die zuvor immer wieder behauptet hatte, nie geschieden werden zu wollen, willigte sofort in den Rechtsmittelverzicht ein und verließ den Sitzungssaal als rechtskräftig geschiedene Frau.

Nach der Verhandlung erklärte sie Papa und mir, sie sei nun unmittelbar nach Claus Seibel geschieden worden, es handle sich doch bei ihm um den Nachrichtensprecher beim ZDF, ob wir das nicht erkannt hätten. Ich realisierte nun den Grund meines Erkennens, aber sowohl Papa als auch ich erfassten unabgesprochen, dass diese Tatsache der Scheidung nach Claus Seibel so bedeutend für sie war, dass wir sie in ihrer Einschätzung bestärkten. Ob nun Claus Seibel der geheime Schwarm ihres Herzens war, ob sie die Tatsache ihrer Scheidung nach Claus Seibel stolz ihren Freundinnen erzählen konnte, ob die Nähe zur Prominenz sie wie das Göttliche gestreift hatte, nie werde ich es erfahren.

Dottore hat diese Geschichte immer wieder erzählt, weil sie zeigt, wie unterschiedlich psychische Lähmungen behoben werden können. Frau Bamberger war durch die Trennung auf das tiefste verletzt und konnte durch ein dem Betrachter läppisch erscheinendes Ereignis plötzlich ihre Realität erkennen und ihr Leben wieder steuern. Daher ist dies Geschehen auch demjenigen mitgeteilt worden, der bislang gleichsam als Objekt durch die wahre Begebenheit geisterte. Früher wollte Dottore es nicht übermitteln, da ihm – die Welt ist auch in Roulettenstadt klein – über einen gewissen Zug zur Eitelkeit bei dem geradezu göttlichen Eingreifer berichtet worden war. Und so etwas soll man nicht bestärken. Dann aber, nach mehr als 20 Jahren, ist es auch jenem Claus Seibel bekannt gemacht worden, damit er sich in der Geschichte eben auch als Subjekt verstehen kann.

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