Montag, 19. März 2012

Sebah (12) und Bursa

„Von der frommen Handwerkerstadt zur modernen Großstadt mit Skiparadies“ so könnte der Untertitel lauten oder „Sanierung ohne Herz und Verstand“. Als Dottore (leider übrigens zusammen mit Pantalone) 1958 erstmals in Bursa war, da prägten Kupferschmiede und Ebenisten das Stadtbild. Die großen Han´s waren Handwerkerzentren, unten arbeiteten die Schmiede und andere gröbere Berufe, im Obergeschoss saßen die Schneider und Schuhmacher. Diese fertigten trotz des damals fest stehenden Gebrauches aller männlichen Türken, durch Heruntertreten des hinteren Teiles eines Schuhes diesen in einen „Schlappen“ zu verwandeln, normale Schuhe an, sogar mit Fersenverstärkung und Schnürung. In dem Mittelpunkt der Höfe stand jeweils ein Gebetsraum, meist auf Säulen, unten blieb eine Fläche zum Waschen. War der Bauzustand der Han´s auch miserabel, so glänzten die Gebetsräume, letztlich durch ihre alltägliche Nutzung. Damals wohnten jedoch etwas über 100.000 Menschen in der Stadt, heute sind es 20 Mal so viele.

Mit zunehmendem Alter wächst die Versuchung, vergangene Zeiten, soweit sie das eigene Erinnern umfasst, in einem besseren Licht zu sehen, besser als sie tatsächlich waren, besser als die gegenwärtigen Zeitläufte. [Mit „Umfassen“ ist das widerliche Wort vom „Bein halten“, üblicherweise beinhalten geschrieben, vermieden. Es kann immer durch das schon lange vorhandene Wort „enthalten“ ersetzt werden. Die mangelnde Abstraktionsfähigkeit bedingt das Unvermögen, das Verb von dem Substantiv lautmäßig zu trennen. Mag die Finale Handlungslehre es nie geschafft haben, auch die Fahrlässigkeit in ihr Korsett zu schnüren, aber mit der Ablehnung des Beinhaltens hatte der alte Welzel recht.] Auslassungen von Menschen, die auf mehrere Jahrzehnte als „Erinnerungsschatz“ zurück zu greifen pflegen, sind grundsätzlich anzuzweifeln. Zwar ist Irren menschlich, aber der alte Bloch wusste schon, dass Zweifeln menschlicher ist. Oder literarischer (nach Shaw): Manche Menschen halten das, was sie dreißig Jahre lang falsch gemacht haben, für Erfahrung. In dieser Weise möchten denn Pantalone und Dottore ihre Texte verstanden wissen.


Die Brücke über das Nilüfer-Flüsschen gibt es noch, sie ist jedoch nur noch ein Baudenkmal, etwas nördlich der breiten Ausfallstraße nach Westen. Sichtbar ist der Hüdavendigar-komplex, der ursprünglich das Grabmal von Murat I, eine Schule, einen Brunnen, die Moschee, eine Armenküche und ein Bad umfasste(!). Murat I herrschte schon über ein solch großes Gebiet, dass er die auf der Wanderung der Türken von Südsibirien nach Kleinasien in Persien aufgeschnappte Herrscherbezeichnung Hu(ü)davendigar annahm.


Nach der Schlachtordnung der Osmanen standen um das befestigte Lager des Herrschers (Sultansschanze) die Elitetruppen, an denen spätestens der gegnerische Angriff scheiterte. So auch auf dem Amselfeld 1389, in der Schlacht zwischen dem serbischen und osmanischen Heer. Je nach politischer Ansicht ist der danach erfolgte Tod von Murat I entweder eine Heldentat oder ein Meuchelmord. Ein serbischer Adliger gab vor, zum Islam konvertieren zu wollen, daher wurde er bis zum Sultan vorgelassen, dort aber erstach er ihn. Der leicht verderbliche Teil des Sultans wurde an Ort und Stelle beigesetzt, der maßgebliche Teil seiner Leiche in Bursa, also in Asien, bestattet, obwohl Murat I die Hauptstadt von dort nach Edirne verlegt hatte. (Man konnte seine Leiche aus religiösen Gründen nicht so zum Grab transportieren, wie dies mit der von Lord Nelson nach der Seeschlacht von Trafalgar geschah.)

Die geologische Situation Kleinasiens bedingt dort zahlreiche heiße Quellen. Eine liegt ganz in der Nähe, es ist die alte Thermalquelle, Eski Kapliska. Wahrscheinlich haben schon die Byzantiner dort gebadet, jedenfalls sind der Vorraum und das Badbecken von byzantinischen Säulen geprägt.


Dieses Bad ist erhalten geblieben, während die normalen Bäder der Türken, die Hamams, stetig verschwinden. Sie waren eine Stätte der Sauberkeit, des sozialen Kontaktes und auch dessen, was nun neudeutsch Wellness genannt wird. Die Badewanne in der eigenen Wohnung verleitet die Türken, das öffentliche Badhaus zu vernachlässigen. Bei dem letzten Besuch in Eski Kapliska war es wieder ein Ort der Begegnung, nun aber gehobener Art.


Etwas weiter zur Stadt hin liegt das Neue Thermalbad, Yeni Kapliska, dessen Kuppeln auf dem Bild sichtbar sind. Ob sich Sebah & Joallier mit der Kutsche, deren Silhouette wie im Scherenschnitt unter dem Baum sichtbar ist, nach dort haben bringen lassen?


Das Bad jedenfalls ist in seiner gesamten Substanz nur frühosmanisch, byzantinisches ist nicht verwendet oder nachgeahmt, den Baukörper „Kuppel“ hatten schon die Seldschuken adoptiert.


Das Bild des Armenischen Viertels berührt ein trauriges Kapitel osmanischer Geschichte, denn darüber kann man nichts erinnerungstrunken faseln, ohne an die gewaltsame Beseitigung der Armenier zu denken. Neuerdings gilt es als Rechtfertigung in der Türkei für die Vertreibung und Tötung der Armenier, diese hätten sich als „unsichere Kantonisten“ erwiesen und mit den Russen kollaboriert. Schon viel vorher gab es systematische Hetzjagden in Kleinasien auf Armenier durch aufgeputschte Jungtürken und ihre Anhänger. Wäre die Türkei wirklich die „Große Nation“, die zu sein sie vorgibt, es fiele ihr leicht, das Fehlverhalten von Nationalisten in der Zeit des Osmanischen Reiches zu erkennen, anzuerkennen und auszusprechen. Es wäre ein leichtes, sagen wir einmal, die Stätte Ani dem Staat Armenien als „Dauerleihgabe“ zu überlassen, dort gleichsam eine Internationale Zone zu schaffen. Zugleich wäre damit auch für die Armenier ein zumindest moralischer Zwang geschaffen, sich mit den Aserbeidschanern hinsichtlich der Enklave Berg Karabach zu arrangieren. Dadurch würden die Türken ein altes Volk achten und es zum gerechten Ausgleich mit ihren Brüdern, dem Turkvolk der Aserbeidschaner, veranlassen.


Das nächste Bild beweist die ununterbrochenen Versuche der offiziellen Mächte in der Türkei, die eigene Vergangenheit zu verleugnen unter gleichzeitiger Verwandlung der überkommenen Bausubstanz in ein Disneyland. Geht man heute die abgebildete Straße entlang, so stehen links Häuser, deren Obergeschosse mit dem Erdgeschoss fluchten, also der schöne Sägezahnaufbau ist vernichtet. Rechts hat man den als Restaurierung bezeichneten Neubau dazu benutzt, die Häuser um ein Geschoß aufzustocken. Alles ist auf „lebendiges Erbe“ getrimmt, es muss also neu aussehen, zugleich aber so, wie es nach der irrigen Vorstellung der Gestalter einmal gewesen war, es wurde fingierter, gefälschter, erfundener Mist. Die dort gemachte Aufnahme wird nicht gezeigt, zu schmerzlich ist die Wandlung.


Es bleibt zu hoffen, dass die Stadt Bursa dem Drang der Mächtigen weiter widersteht, den ansteigenden Ulu Daĝ zu besiedeln. So sahen nämlich die zum Berg hin aufsteigenden Viertel zur Zeit von Sebah & Joallier aus, also um 1894 ff.



Stimmt nicht! Das zweite Bild ist nicht von Sebah & Konsorten, sondern es stammt von Pantalone, der es zum Zwecke der Täuschung auf „Sebah“ umfärbte und den Telefonleitungsmast wegretuschierte. Als Pantalone 1958 die Aufnahme machte, hatte sich die alte Substanz des Stadtbildes in den 64 Jahren noch nicht so stark geändert, wie in den 54 Jahren seitdem.


Am Yer Kapi der Zitadelle kann man am gleichen Standpunkt auch heute noch eine vergleichbare Aufnahme machen, aber das Tor, die gesamte Mauer und die Ausmalung des ausgefüllten Rundbogens über dem Tor sehen aus wie neu. Am verwerflichsten ist dabei, dass der fast gänzlich verwitterte oder beschädigte Stein rechts am Ansatzpunkt des Bogens, der seinerzeit schon von den Erbauern des Tores, den Byzantinern, als Spolie aus einem antiken Bauwerk eingebaut wurde, gänzlich erneuert oder so verändert wurde, als hätte der antike Steinmetz gerade gestern ihn bearbeitet. Geschichte hat Materie, ist nicht nur Idee; die Dialektik des Schiffes von Theseus kann nicht durch „Plattmachen“ der Materie aufgehoben werden, sie wird dadurch ignoriert.


Bei der Betrachtung und Würdigung alter Bausubstanz muss man nicht in larmoyanten Konservatismus verfallen. Die im 19. Jahrhundert noch mit seitlichen Aufbauten überzogene Seti Başi Brücke verbindet die Altstadt mit den wachsenden Vorstädten. Um den heutigen Verkehrsfluss einigermaßen aufzunehmen, musste die Brücke ihre ursprünglich nutzbare Breite wiedererlangen, die Händleraufbauten mussten weichen. Traurig, aber einsichtig. Nur, jetzt wurde die Irgandi Brücke, die etwas nördlich den Gökdere überspannt, renoviert, sie ist nun eine neutürkische Brücke á la Seti Başi.


Der Blick über die am Hang liegende, sanft in die Ebene übergehende Stadt ist von großem Reiz. Inmitten der Altstadt ragt die Ulu Cami auf. Am linken Bildrand ist etwas oberhalb der Mitte eine Kirche zu erkennen, denn im Osmanischen Reich wohnten viele Griechen in Bursa. Deren Weggang, 1922 im zweiten Friedensvertrag geregelt, war wohl unvermeidlich, zu aufgewühlt waren damals die nationalen Emotionen. Geschadet hat der Wegzug dieses Bevölkerungsteiles der Stadt Bursa allemal.


Der Ula Cami merkt man an, dass zur Zeit ihrer Erbauung Konstantinopel noch nicht erobert war. Der Drang, die Kuppel der Hagia Sophia zu kopieren, hatte die Hirne der osmanischen Architekten noch nicht behext. So wurde denn ein Raum mit zwanzig Kuppel überdacht, die im Mittelschiff sind etwas höher.


Dadurch entsteht im Inneren ein seidiges Licht, das Plätschern des Brunnens gibt Zeugnis von einer der großartigsten Erfindung der muslimischen Architektur. Es ist die „vierte“ Dimension, die des Geräusches, fast immer das leichte Gurgeln und Zwitschern eines Wasserlaufes. Die aus der arabischen Hitze stammende Sehnsucht nach kühlem Wasser wird mehr akustisch als kleinklimatisch befriedigt. Die Räume der Alhambra sind nicht nur wegen der Verdunstung der kleinen künstlichen Bächlein auch bei Hochsommerhitze kühl, sondern der Körper des Besuchers schließt sich in seinem Gefühl der Erfahrung des Ohres an, Wasserkluckern bedeutet frische Kühle.


Früher lockte der Brunnen nicht nur die Gläubigen zur Waschung, auch die Buben nahmen an der Freude des laufenden Wassers teil. Die große Gabe Allahs, das fließende Wasser, war ein immerwährender Anreiz. Um den Brunnen damals zu betreiben, war eine Leitung aus einem der Bäche, die von Ulu Daĝ herabstürzen, zu dem Brunnen in der Moschee verlegt worden, es war ein Fließbrunnen, mehr Quelle als Brunnen. Ach, ihr dummen Renovierer, ihr habt eine Plexiglasumzäunung angebracht, diese und die Verbotsschilder verwehren den Kindern das Wasser Gottes. Man konnte es trinken. Heute kann es dann auch noch während des Gebetes abgestellt werden.


Zweimal die Türe der Grünen Türbe: Verträumt schaut der Junge aus dem Raum kommend in den Himmel. Die Türe wiederholt die Muster des Bauwerkes. Ihre heutige Nachfolgerin hätte genauso gestaltet sein können, aber die Meinung, nun etwas Zeitgerechtes zu machen, was dem Bauwerk zukommt, ist schlicht falsch. Bleibt zu hoffen, dass das Material Holz auch hier seine Hinfälligkeit erweist, in 50 Jahren kann dann eine würdigere Nachfolgerin sie ersetzen.



Wer in der Türkei nicht nur auf den Hauptstraßen reist und das Leben der Menschen auf dem Land beobachtet, kann neben anderem eins feststellen, die Türken haben ein unmittelbares Verhältnis zur Erde. Sie hocken, sie liegen auf ihr, ohne sich von ihr durch eine Decke zu trennen. Die türkische Sprache hat viele Wörter, die nur einsilbig sind, sie benennen die Dinge des einfachen Lebens, so die Erde mit „Yer“. Als unsere Fotografen das Pomar Baschi Cafe aufsuchten und dessen Besucher aufnahmen, da lagerten sie selbstverständlich auf der Erde, wie denn sonst. Da Google den Speicherplatz für solch einen Blog limitiert, sind alle Bilder meist auf ein Viertel ihre Pixeldimensionen verkleinert. So sind denn Einzelheiten mehr erahn- als sichtbar: Die sich als Zeybeks gebenden Herren in der Mitte, die durchschimmernden Häuser zwischen den Zweigen der Bäume.


Das nächste Bild stammt von Sebah senior, es ist als „alt“ daran erkennbar, dass die Minaretts der Ulu Cami noch nicht barock behelmt sind, wie auf den Ausnahmen des Sohnes. Im Vordergrund ist der damals schon beschädigte Pirinc-Han zu sehen, das Obergeschoss seines Nordwestteils war schon teilweise eingestürzt.


Auch 1958 war das so. In dem Hof des früheren Reishandelsplatzes waren störende Gebäude errichtet worden, aber Handwerker nutzten alles intensiv. Die Kuppeln hatten ihre Bleiabdeckung verloren, es waren Dächer darüber.


Heute sind die Handwerker verjagt, die türkische Jeunesse Dorée pflegt dort den Müßiggang, wobei sich die Frage stellt, hat sie Muße? Sie essen und trinken, lärmen und telefonieren, alles zugleich, sie halten das für Leben. So ist das in Bursa, genauso wie überall.


Den letzten Scham haben aber die Stadtsanierer noch nicht verloren, der polygonale Marmorsockel zeigt das. Dort erhob sich früher der Gebetsraum, der nun überflüssig geworden ist, denken sie! Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Verlust der Mitte, trotz Sedlmayr.


„Sag mal, Dottore, ich verstehe Dich nicht. Du gibst immer vor, seit Deinem 13. Lebensjahr Agnostiker zu sein, aber in diesem Post weinst Du ununterbrochen dem Verschwinden der Religion in Bursa nach.“

„Sieh mal, natürlich ist mir letztlich die Religion egal, ich habe mit Brecht in den Meti-Geschichten beschlossen, ich brauche sie nicht. Auch bin ich dem Islam doch gram, weil er die notwendige „Aufklärung“ nicht leistet, sogar die Ansätze dazu unterdrückt. Jedoch treten ohne eine Aufklärung in muslimischen Ländern nunmehr die Götzen des gegenwärtigen Sozial- und Wirtschaftssystems an die Stelle der Religion, und die sind schal und schädlich zugleich. Fromme muslimische Handwerker sind mir eben sympathischer als flinke Dienstleister mit scheinreligiösen Fetischen.“

„Was hast Du denn gegen mich und meine Bilder, die ich auf unserer Reise von 1958 gemacht habe?“

„Gegen die Bilder habe ich nichts!“

Gewidmet Hartwig Schmidt, dessen intellektueller Tanz um des Theseus´ Schiff mich faszinierte.

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