Mittwoch, 12. Januar 2011

Das Bugholz und meine Liebe zu ihm

Es ist das Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, einige Jahre mehr. Die Französische Revolution hat stattgefunden, Napoleon hat versucht, aus ihren Auswirkungen persönliches Kapital zu schlagen; er ist gescheitert.

Exkurs: Wieder einmal zeigt es sich, daß Revolutionen ungleich friedlicher, ungleich weniger tödlich sind als Kriege: Das Mehrfache an Toten der französischen Revolution und ihrer Bürgerkriege in Frankreich hat allein der Rußlandfeldzug Napoleon an Soldaten der Grand Armee gekostet, die ungezählten Russen nicht einmal berücksichtigt.

Um sich im imperialen Glanz zu sonnen, hatte Napoleon – wie alle legitimationssüchtigen Usurpatoren nach ihm – die römische Antike bemüht: das aus dem Spätbarock fließende Em pire bestimmte die Innenarchitektur im Kaiserreich der Franzosen. Die Landkarte Deutsch lands hatte sich als Folge der napoleonischen Kriege und Friedensschlüsse etwas entfärbt, gleichwohl verharrte das Land im Zustand der Kleinstaaterei.



Also kam das Empire in Deutschland in kleiner Münze an, Kleinstaaten, Kleinbürger zumal müssen alles auf ihr Maß reduzieren. Bieder ging man zur Sache, der Biedermeier war da. Die Hoffnungen der Intellektuellen in Deutschland – von Schiller, Knigge bis Beethoven –, die Französische Revolution würde auch hier einen Aufbruch, vielleicht sogar einen Umbruch bewirken, waren verflogen. Metternich und die Karlsbader Beschlüsse regierten auch das geistige Klima.

Dabei war tatsächlich eine Veränderung vor sich gegangen: Die industrielle Revolution er wies sich – dies ist ökonomischen Veränderungen eigen – als durchschlagend. Mit olle Marx und olle Engels ist es doch im Gegensatz zu Hegel so, daß nicht der „Geist“ die „Materie“ be stimmt, sondern das wirtschaftliche und soziale Dasein determiniert maßgeblich das Denken; – allerdings ist dies ein wirklich dialektischer Prozeß: Neues Denken wirkt wiederum auf die reale Welt ein. Den Bürgern, den die französische Revolution die Befreiung von den Feudalherren brachte, war ihre wirtschaftliche Macht bewußt oder wurde es, politische Macht konnte sie daraus vorab nicht ableiten. Die deutschen Bürger flohen – nicht zum letzten Mal – in die Innerlichkeit.

Äußerlich strebten die Bürger nach dem Vorbild des Standes, der gerade seine Bedeutung verlor, nach dem Vorbild der Feudalherren. In der Stadt, deren Mauern ihren strategische Wert verloren hatten und die langsam zu eng wurden, so daß sie geschleift und in Grüngürtel – boules vertes – verwandelt wurden, hatten die Einwohner zuvor nur Häuser gehabt, die eng aneinander gebaut worden waren. Nunmehr war es das Ziel, auch ein Haus zu haben, um das man herumgehen konnte, um sich als Eigentümer zu fühlen, die Villa. Goethe hatte das Haus am Frauenplan, hier war er Vasall, aber auch das Gartenhaus, hier lebte er als Verkörperung des neuen Menschentyps.

Die biedermeierliche Stube sollte nun nicht leer stehen. Wie aber konnte der steigende Bedürfnis an Möbeln gestillt werden? Mit handwerklich hergestellten Möbeln konnte der Bedarf auf Dauer nicht befriedigt werden. Hatte die Schreinerfamilie Röntgen noch Tische, Sekretäre, Schreibtische und Sitzmöbel auf höchstem handwerklichem Niveau gefertigt, so daß jedes Produkt ein Einzelstück und ein Kunstwerk war, so sann der in der gleichen Gegend tätige, jedoch etwas später lebende Michael Thonet danach, wie er leicht und schnell viele Möbel herstellen konnte.

Als besonders schwierig erwies sich dabei die Herstellung runder Möbelteile. Wenn man in früheren Jahren Holz brauchte, das eine Rundung haben sollte, so trachtete man danach, sol che Bäume oder Teile von ihnen zu verwenden, die schon mit der Rundung gewachsen waren. So sind in Süddeutschland Jahrhunderte lang die Holzteile des Kummet, also die halbovalen Stücke, aus den unteren Teilen der Kiefern gemacht worden. Die im Hochgebirge stehenden Kiefern wurden in ihrer Jugend im Winter durch die Schneelast talwärts gebogen, im Sommer richteten sie sich wieder auf.

Holz hat eben nur dann seine Festigkeit und Elastizität zugleich, wenn die Holzfasern in ih rem Verlauf berücksichtigt werden. Demgemäß trachtete Michael Thonet zuerst danach, das Holz der Möbel dadurch in die gewünschte Form zu bringen, daß er dünnste Streifen des Materials aufeinander verleimte, also Furnier auf Furnier klebte. So gelang es ihm zwar, die gewünschte Form zu erreichen, die auch stabil war, jedoch ist es offenkundig, daß diese Me thode äußerst arbeitsintensiv war. Zudem mußte das so hergestellte Teil noch in seine endgül tige Form gebracht werden, also noch gehobelt, gefeilt und geschliffen werden.

Nun war schon seit alters her bekannt, daß Holz biegsam ist, besonders dann, wenn man es feucht erwärmt. Um aber das nachfolgende zu verstehen, müssen wir uns ein wenig mit der Struktur des Holzes und mit Statik beschäftigen.

Holz ist ein elastisches Material – in Grenzen;
Holz ist ein druckfestes Material – erheblich, je nach Art;
Holz ist jedoch kein sehr zugfestes Material.

Biegt man ein langes Stück Holz stark rund, so geschieht mit diesem Material das gleiche, was mit allen so behandelten Materialien geschieht: teils wird das Holz gestreckt (an der Au ßenseite), teils wird das Holz gestaucht (an der Innenseite). So malträtiertes Holz bricht, wie jeder von uns weiß: von außen. Bei diesem Biegevorgang wird aber das Holz in seiner Mitte weder gelängt, noch gestaucht, nennen wir diesen Bereich einmal die „neutrale Zone“.

Wenn man nun einen Holzstab unter Dampf erwärmt und in eine Rundform biegt, dort fixiert und abkühlen läßt, so nimmt zwar der Stab die neue Form an, aber das wenig zugfeste Mate rial Holz verzeiht die Streckung seiner Außenseite der Biegung nicht und reißt spätestens nach vollständiger Abkühlung und Austrocknung ein

Um die Längendifferenzen bei solchen Biegevorgängen vor Augen zu führen, nehmen wir beispielsweise einen 1 m langen und 2 cm dicken Holzstab und biegen ihn zu einem Halbkreis (damit könnte man beispielsweise einen Teil der Oberlehne eines Schaukelstuhles von Thonet herstellen!). In der Mitte bleibt der Stab – neutrale Zone! – 1 m lang, aber auf der Außenseite müßte er sich auf 103,14 cm strecken, auf der Innenseite würde er auf 96,86 cm zusammenge staucht. Kein Wunder, daß kaum ein Holz dies dauerhaft übersteht. 

Nun noch etwas zum weiteren Verständnis:
Fast alle Materialien verändern ihr Volumen bei Temparaturschwankungen, jedoch nicht im gleichen Maß. Wer mit der Concorde von Paris nach New York geflogen ist, benützte während der Hochgeschwindigkeitsphase, also nach der Erwärmung durch die Reibung mit der Luft, ein Flugzeug, das 20 cm länger war als beim Start. Holz dehnt sich zusätzlich bei Durchfeuchtung aus, jedoch verstärkt quer zur Faser, gering längs der Faser. Der Ausdehnungskoeffizient von Eisen ist gegenüber dem des Holzes äußerst gering, jedenfalls in den hier interessierenden Wärmebereich.


Michael Thonet sinnierte also darüber, wie es gelingen könne, das Holz nach dem Biegen vor dem Reißen zu bewahren. Seine bahnbrechende Idee klingt – abstrakt formuliert – einfach, fast banal: Alle Fasern des Holzes dürfen nur gestaucht, nicht gestreckt werden, also die „neutrale Zone“ muß auf die Außenseite der Biegung verlegt werden. Aber, wie macht man das?

Zuerst einmal muß eine Form geschaffen werden, in die das Holzteil fixiert werden kann, hier bot sich Gußeisen an.
Dann erwärmt man das Holzteil, unseren Rundstab, unter Dampf auf fast 100° und legt an seiner späteren Außenseite eine stabiles Bandeisen an, daß dessen beide Enden mit Zwingen auf dem Stab fixiert werden. Eisen verändert bei 100° kaum seine Länge, ist also längenstabil. Biegt man nun den Stab auf dem Formteil nach innen, so kann keine Faser des Holzes länger werden als das Bandeisen, das aber gleich lang bleibt – ergo wird alles Holz gestaucht (auf 93,71 cm innen), Risse treten auch nach dem Erkalten nicht auf. Aber, das alles kennen wir seit unserer Jugend, ohne es so betrachtet zu haben: Wenn man von einem Baum einen starken Zweig abbrechen will, so bricht er eben nur halb durch, den Rest bricht dadurch, daß wir den Zweig über die Bruchstellen zur anderen Seite biegen.


Also die Erfindung des Michael Thonet ist nicht die Umsetzung der Erkenntnis, daß Holz un ter Dampf besonders biegsam ist, sondern seine bahnbrechende Tat war das Biegen des Hol zes in neue und beständige Formen unter Vermeidung jeglichen Streckens des Materials.

Das, was sich so einfach schildern läßt, war Herrn Thonet nicht in einer schlaflosen Nacht eingefallen, wie denn auch hier das Wort von Thomas Alva Edison gilt, nach dem jede Erfin dung zu 99% auf Transpiration und zu 1 % auf Inspiration beruht.
Die langen Versuchsreihen hatten die Finanzen des Michael Thonet maßgeblich zerrüttet, zudem gab es noch keinerlei Möglichkeit in der wirtschaftlichen Enge seiner Heimatstadt, Boppard am Rhein, seine Idee industriell umzusetzen. Da traf es sich gut, daß Michael Thonet 1841 auf einer Ausstellungs messe den Fürsten Metternich traf, der später wegen der Revolution 1848 von seinem Amt als Kanzler der österreichischen Monarchie Abschied nehmen mußte. Politisch konservativ han delnden Menschen ist oft eigen, in anderen Bereichen weitsichtig und klar zu denken. Metter nich erkannte die Fortschrittlichkeit der Erfindung Thonets und empfahl ihn nach Wien. Da mit begann der Aufstieg des Dynastie Thonet.


Michael Thonet hatte fünf Söhne, die alle in der aufstrebenden Firma mitarbeiteten (insgesamt gebar seine Frau ihm 13 Kinder, von denen aber nur 5 die ersten Jahre überlebten). Auch später waren Mitglieder der Familie Thonet in der Firmenleitung tätig, die heutige Thonet AG in Frankenberg wird auch von einem Thonet geleitet. Die Theorie von der Schwäche ab der dritten Generation trifft hier also nicht zu.

Erste Erfolge hatte Michael Thonet in Wien mit der Möblierung des Palais Liechtenstein, de ren Stühle noch heute verzaubern. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden, daß von Anfang an Michael Thonet im Auge hatte, Möbel industriell herzustellen. Dazu war Wien nicht sonderlich gut geeignet, da das Rohmaterial - Buchenholz - dort nicht in großen Mengen vorhanden war, sondern erst herbeigeholt werden mußte. Also breitete sich die Firma Thonet dadurch aus, daß sie überall da in der Habsburger Monarchie Fabriken errichtete, wo Bu chenwälder standen. Dabei muß eben mitbedacht werden, daß Österreich- Ungarn damals Österreich umfaßte, Tschechien, Slowakei, Teile Südpolens, Teile der Ukraine, Ungarn, Teile Norditaliens, Slowenien, Kroatien, Teile Bosniens und große Teile des nördlichen Rumäni ens. Die berühmtesten Werke waren in Koritschan, in Mähren, in Nowo-Radomsk, im heutigen Polen, Bistritz ebenfalls in Mähren, Groß-Ugrocz in Ungarn und eben in Franken berg/Eder.

Bei allen diesen Werken wurden neben den Industriebauten auch Wohnungen für Mitarbeiter geschaffen, nicht nur für die leitenden Angestellten, sondern auch für Arbeiter. Die Arbeit an den Dampföfen war schweißtreibend und strapaziös. § 43 der Arbeitsverträge lautete: „Keiner unserer Beamten und Diener darf sich ohne unsere Bewilligung verehelichen und muß sich selbe schriftlich erbitten“. Das zum patriarchalischen Führungsstil.

Wirtschaftsrechtliche Grundlage dieser Tätigkeiten waren Rechte, sogenannte Privilegien, die man heute als Patent ansehen würde. Allerdings bereiteten sie noch nicht diesen Schutz wie heutzutage, so daß schon nach kurzer Zeit andere Firmen auf die Idee kamen, in fast „sklavi scher Nachahmung“ die Möbel zu kopieren. Es gibt daher eine Fülle von anderen Fabriken, die oft nur am sogenannten Brandstempel, der von unten her in die Stühle oder andere Mö belteile gedrückt wurden, unterscheidbar sind. Fehlt dieser Brandstempel oder sind die Auf kleber verschwunden, so es ist selbst für Experten kaum möglich, Unterscheidungen festzu stellen.

Hergestellt wurden Stühle (in Österreich Sessel genannt), Sessel (in Österreich Fauteuils ge nannt), Kanapees, Hocker (in Österreich Stockerl genannt), Fußschemel, Kaffeehausbänke, Kirchenmöbel, Jagdsessel, Spazierstöcke, Bidets, Stühle für Friseure und Zahnärzte, Kran kentragestühle, Tische in allen Arten und Formen, Blumen-, Kleider-, Noten und Zeitungs ständer, Stiefelauszieher, Spiegel und Paravents, Schaukelstühle, Betten, alles noch einmal in Kindergröße, und dann noch einmal in Puppenstubengröße. Aber auch Versuche mit der Herstellung von Holzrädern für Kanonenlafetten wurden unternommen, ebenso wurden Thonet-Ski hergestellt. Es gab zahllose Variationen von Stühlen, die sich neben ihrer Form auch durch die Ausgestaltung der Sitzfläche, durch die verschiedene Art der Befestigungen etc. unterschieden. Die Formen der Möbel waren meist ruhig und - heute für uns - gelungen bis elegant, es gab aber auch schreckliche Anpassungsversuche an Gründerzeit und ähnliches.

Über die Fülle der hergestellten Waren informierten seit Mitte der 70iger Jahre des 19. Jahr hunderts jährlich noch erscheinende Kataloge. Diese sind in Nachdrucken die Bibel der Sammler. Daher bin ich ganz stolz, einen Stuhl zu besitzen, der in keinem Katalog zu finden ist. Die Firma Thonet unterhielt im Jahre 1904 in der Habsburger Monarchie vier, im deutschen Reich fünf Verkaufshäuser, in fast allen großen europäischen Städten von St. Petersburg bis Odessa, von Madrid bis Neapel in Europa vierzehn Verkaufshäuser, und schließlich noch eins in New York, am Broadway. Die Konkurrenz mit Firmen wie Kohn, Fischl und Mundus etc. war sehr scharf, jedoch behauptete sich dieses Firmenimperium bis zum Ersten Weltkrieg, im Krieg bzw. kurz danach kam es zu großen Zusammenschlüssen fast aller konkurrierenden Firmen unter der Firma Thonet-Mundus AG. Im Jahre 1913 arbeiteten in 60 Fabriken von 52 Firmen etwa 35 000 Beschäftigte, davon produzierte allein die Firma Thonet mit 6 800 Mitarbeitern ca. 2 000 000 Möbelstücke, wohlgemerkt in einem Jahr.

Mit der Zerschlagung der K.u.K.-Monarchie zerfiel auch das Imperium Thonet, zumal alles freie Firmenvermögen in Kriegsanleihen angelegt war. Die einzelnen Werke in den nun selb ständigen Ländern arbeiteten unter eigenem Namen weiter, zumal durch Enteignungen etc. neue Eigentümer diese übernommen hatten.

Die Innovationsfreudigkeit der Firma Thonet erkennt man am besten daraus, daß die im Ge folge des Bauhauses aufkommenden Stahlrohrmöbel von Mies van der Rohe, Marcel Breuer, Mart Stam, produziert wurden, also eine Abkehr von der einseitigen Produktion von Holz möbeln.
Die Wirtschaftskrise Ende der 20iger Jahre, danach die Herrschaft des Dritten Reiches, die den teilweise etwas jüdischen Eigentümern der Thonet Mundus AG nun nicht gerade freund lich gesinnt war, dies alles führte dazu, daß die Firma Thonet auf ein kleineres Maß schrumpfte. Übrig blieb letztlich nur die Fabrik in Frankenberg/Eder, wobei gleich wieder nach dem Kriege dort die Produktion aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, daß wir in unserer Schule am Gutenbergplatz in Wiesbaden auf kleinen, hellen Stühlen saßen, die aus Bugholz hergestellt waren. In den letzten Jahren hat die Thonet AG erhebliche Anstrengungen unternommen, um die alte Billigkonkurrenz aus den östlichen Fabrikationsstätten vom Markt zu vertreiben. So darf der Stabilitätsring unter der Sitzfläche eben nur noch von der Thonet AG benutzt werden - ein später Ausgleich für die schwache Rechtsposition im 19. Jahrhundert.

Der ästhetische Reiz der vielen Formen ist zum einen, soweit es sich um alte Möbel handelt, auf die Genialität des Michael Thonet für Formgebung zurückzuführen. Zum anderen war die Familie aber immer darauf bedacht, am Markt zu bleiben, auf der Höhe der Zeit zu sein. Sie beschäftigte namhafte Architekten, dies waren vor dem Ersten Weltkrieg insbesondere Adolf Loos, Otto Wagner, Josef Hoffmann, Marcel Kammerer, Koloman Moser, Josef Urban, die alle Sitzmöbel entwarfen und ganze Bereiche damit ausstatteten. Denn die Firma Thonet erstellte Gesamtausstattungen für Theater, Caféhäuser, Pferderennbahnen und ähnliches.

Wer heute irgendwo einen Thonetstuhl erwirbt, kann sicher sein, kein Unikat zu haben, es herrscht die Vielzahl vor, der berühmte Stuhl Nr. 14 ist bislang über 70 Millionen Mal hergestellt worden. Natürlich kann es möglich sein, daß man das eine oder andere Möbelstück deswegen ein Unikat nennen kann, weil es eben nur noch ein Mal vorhanden ist. Jahrzehntelang wurden diese Stühle zersägt und als unmodern weggeschmissen, insbesondere dann, wenn die Sitzfläche, die in vielen Fällen geflochten war, zerstört war und es keine Möglichkeit gab, sie reparieren zu lassen. Ein Unikat kann auch deswegen existieren, weil es eben zu jedem Stuhl viele Möglichkeiten der Verbindung von einzelnen teilen gab, die aus auch so bestellt werden konnten.

Ich hatte oben schon erwähnt, daß es überall auf der Welt, jedenfalls auf der damals bekann ten, Verkaufsstellen gab. Dem trug auch die Firma Thonet dadurch Rechnung, daß sie die Möbel, sofern sie über größere Distanzen hinweg transportiert werden mußten, zerlegt ver schickte, wobei in einem Kubikmeter Raum 37 Stück Stühle Nr. 14 paßten - natürlich ausein ander genommen. Es ist nämlich ein Kriterium der Produkte der Firma Thonet, daß sie nie verleimt wurden, sondern daß alle Verbindungen geschraubt wurden.

Die Bugholzmöbel kann man überall im Film entdecken: wenn Charlie Chaplin als falscher Kellner aus dem Gastraum flieht und dabei hinter sich alle Stühle umschmeißt, so sind es mutmaßlich Thonetstühle. Billy Wilder - ein Sammler und Liebhaber dieser Möbel - läßt in dem Film „Appartement“ Shirley MacLaine in einem Thonetbett solange agieren, bis sich Jack Lemmon in sie verliebt.

Aber die Frage danach, wann man ein Unikat besitzt, ist eben eine Frage, die man nur dann stellt, wenn man glaubt, ein einzigartiges Kunstwerk zu besitzen. Sieht man den Gegenstand ohne diese Brille, so ist er eben gleichwohl angenehm, vielleicht sogar schön, obwohl es ihn vielfach gibt.

Ich selbst bin zu den Thonetmöbeln dadurch gekommen, daß mich die raffinierte Einfachheit bestach. Seit Ende der 60iger Jahre sammele ich Stühle, jedoch tue ich dies nicht großer In brunst. Immer dann, wenn ich einen Stuhl aus irgendwelchen Gründen erwerben kann, tue ich es. Es ist auch für mich ein Stück Altersvorsorge, sollte ich nämlich mal mit meiner berufli chen Arbeit aufhören, so kann ich mich ruhig daran machen, meine Stühle zu restaurieren. Denn das tut bei den meisten Not.

Auf dem Weg vom Schreinermeister Michael Thonet zur Thonet AG heute mußten wir uns mit Statik und Materialkunde, mit Patentrecht und Firmenzusammenschlüssen, mit dem Ent werfen von Produkten, bevor man es Design nannte, beschäftigen. Der Reiz eines Stuhles aus Bugholz ist dadurch bestimmt, daß hier das Material an seine Grenze geführt wurde. Der Frei schwinger von Marcel Breuer ist etwas Ähnliches in dem Material Stahl (und Leder). Schöne Stühle aus dem Material unserer Gegenwart, aus Plastik, gibt es wenige. Also ruhen wir uns gerne auf dem Sitz des Michael Thonet aus, der uns zeigt, daß Industrie und gute Formgebung eins sein können.

Da hat sich doch der feiste Kerl aus Bologna in mein Werk gemogelt! Ach, die Wissenschaftler!!

1 Kommentar:

  1. Eine Ergänzung im Detail habe ich anzubringen: Holz (insbesondere die von Thonet verwendete Buche) ist tatsächlich ein recht zugfestes Material. Seine Zugfestigkeit ist sogar ungefähr doppelt so hoch, wie seine Druckfestigkeit.
    Beim Biegen wird es an der auf Druck belasteten Seite gestaucht, auf der gegenüber liegenden gedehnt. Letzteres macht es nicht mit. - Zudem es durch drechseln und biegen auch noch in seiner gewachsenen Struktur gestört und gegen diese belastet wird. Es reißt dann längs der Faser auf.

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