Sonntag, 26. August 2012

Lenin und die Reichspost


Es ist gängig und liegt im Trend, sich über die Altvorderen des Sozialismus lustig zu machen. Zu den bei derlei Gelegenheiten kolportierten Absurditäten zählt die Bemerkung Lenins, die kommende Volkswirtschaft im Sozialismus zu erst einmal nach dem Vorbild der Reichspost aufzubauen. Man stelle sich vor!

Man tut beiden Unrecht. Der Generalpostmeister Heinrich von Stephan hatte ab 1860 eine durchstrukturierte, gut funktionierende Institution geschaffen, die bis zu ihrem Ende im Jahre 1994 durch die unselige Privatisierungssucht  jedes Jahr Gewinne abwarf, deren beträchtliche Höhe in den Staatshaushalt flossen. Die Mitarbeiter arbeiteten effektiv und die Spitzen der Verwaltung leisteten ihre Arbeit ohne Bonuszahlungen. Man war der übergeordneten Idee verpflichtet, alles Umstände, die für eine Übergangszeit ein Vorbild hätte sein können. Zu diesen Umständen gehörten auch Leistungen, die betriebswirtschaftlich nicht rentabel waren, jedoch volkswirtschaftlich und human von Wichtigkeit. Dazu eine Geschichte:  

Helmut und Jutta waren Anfang der 1960er der Hamburger Hochnäsigkeit entflohen, nach Berlin. Helmut studierte Jura, Jutta machte ab und zu Fußpflege, sie hatten eine der großen Wohnungen gemietet, die seitlich des Kurfürstendammes noch erhalten waren. Die Haupteinnahmequelle der beiden waren der Mietzins der zahlreichen Untermieter. Man kam gerade so über die Runden. Dann wurde Jutta schwanger, es kündigten sich Zwillinge an, die ganze Ökonomie geriet ins Wanken. Alle Freunde und Bekannten – die meisten hatten ähnlich wenig Geld – hatten Mitgefühl, zumal die Fortsetzung der Menschwerdung als mutige Entscheidung gewertet wurde.

Die junge Mutter erhielt einen Anruf von der Nachforschungsstelle der Berliner Post. Ob sie Zwillinge geboren hätte, wie sie von ihren Freunden genannt würde, ob sie ein Paket erwarte? Antwort: Ja; Jule; ja. Dann haben wir ein Paket für sie!

Auf die Nachricht der Geburt hin hatten süddeutsche Freunde, deren Kinder schon größer waren, rasch ein Paket mit nicht mehr benötigter Wäsche für Kleinstkinder gepackt, wobei sie in das Paket eine Kurznachricht einlegten: „Liebe Jule, herzlichen Glückwunsch. Für deine Beiden das Notwendigste. Brief folgt. Grüße ...".

Auf dem Weg nach Berlin war das Äußere des Paketes zerrissen worden, der Adressenaufkleber (samt Absender) war dabei bis auf die Stadtbezeichnung verlorengegangen. Also landete das Paket in der Nachforschungsstelle für verlorengegangene Sendungen. Dort dachte man kurz nach, Empfängerin musste eine Frau sein, die zum einen Julia oder Jutta hieß, zum anderen musste sie vor kurzem Zwillinge geboren haben. Westberlin war zwar eine Millionenstadt, aber beide Merkmale trafen nur eben bei Jutta zu, nachdem man Standes- und Meldeamt konsultiert hatte. So gelangte die Hilfe zu den Zwillingen.

Veränderungen zu heute:

1. Helmut ist ein pensionierter höherer Ministerialbeamter,
2. Jutta studierte noch Medizin und wurde eine tüchtige Ärztin,
3. die „Beiden“ sind Endvierziger und haben ihrerseits schon seit langem Kinder,
4. die Wohnung war in einem Haus, das längst abgerissen ist,
5. erweisen sich heute Pakete als „unzustellbar“, dann werden sie gesammelt und versteigert, der Absender erhält von der Versicherung nach langen Auseinandersetzungen bisweilen eine Entschädigung.

Der Glaube, jede Veränderung sei ein Fortschritt, sollte auf Menschen beschränkt bleiben, die Holzkohle herstellen.


Dottore: „Der assoziativ und in Bildern denkende Pantalone will noch was!“

Pantalone: „Als ich 2009 durch die Troas fuhr, sah ich mehrere Meiler, die rauchten, aber verlassen schienen. Dann kamen die Köhler schlaftrunken aus ihrer Hütte. Ich zweifle, ob man heute noch weiß, wie das aussieht. Daher mein Bild. – Kaum aufgewacht, machten sie aber einen umsichtigen Eindruck, ihnen war der sprichwörtliche Glauben nicht eigen!“  

Nachtrag vom 21. 11.  2018:

Bekanntlich sucht Pantalone ununterbrochen im Internet nach Bildern, von denen er meint, sie seien von allgemeinem Interesse - beachtenswert ist dabei die Gleichsetzung von "Meinung" und "Allgemeinheit". Nun hat er das Bild einer Postkarte gefunden und bedrängt Dottore seit geraumer Zeit, das hier wiederzugeben. 


Als es eben noch Postkarten verschickt wurden, da hatte der unbekannte Absender ein russisches Kartenformular erworben, die Karte mit unterschiedlicher Schrift (bei dem Wort POSTSEKRETÄR handelt es sich um deutsche Schreibschrift, nicht um Sütterlin!) adressiert und sie dann am 21. September 1901 bei dem russischen Postamt in Smyrna eingeworfen. Die zaristische Post (respektive die Ochrana) brauchte aber geraume Zeit, um die Harmlosigkeit der versendeten Botschaft zu entschlüsseln und konnte daher erst am 4. Oktober 1901 die Karte dem deutschen Postamt zuleiten. Dann aber brauchte die Nachricht nur fünf Tage, um nach Calbe zu gelangen. Damals gab es nur Eisenbahntransport, der aber offenbar vorzüglich funktionierte. Als Pantalone und Dottore vor mehreren Jahren zum letzten Mal aus Kleinasien Postkarten expedieren wollten, da dauerte der Transport 17 Tage, trotz des Einsatzes von Flugzeugen. 

Dottore kann sich nur selbst zitieren: Der Glaube, jede Veränderung sei ein Fortschritt, sollte auf Menschen beschränkt bleiben, die Holzkohle herstellen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen