Wir waren vom 21.05.1954 bis 4.06.1954 im Schullandheim in Holzhausen. Wir, das waren die Schüler der Klasse U III b des humanistischen Gymnasiums. Dieses war im Gebäude des jetzigen Gutenberg-Gymnasiums untergebracht, die Schule hatte zwei Zweige: "Huma" und "Real". Die vom "Huma" fühlten sich in der historischen Folge deutscher Geistesgeschichte, die uns damals so vermittelt wurde, selbstverständlich den traditionslosen Gesellen vom "Real" überlegen, die vorrangig Neusprachen und Naturwissenschaften lernten. Der feine Unterschied war schon an den Klassenbezeichnungen erkennbar: die Klassen im humanistischen Zweig wurden mit römischen Ziffern benannt, die im realgymnasialen Zweig mit arabischen. Sogar die Spitznamen der Lehrer war unterschiedlich; ein Studienrat, der in Mathematik und Religion unterrichtete und einen Turmschädel hatte, hieß bei den der platten Naturwissenschaft nahen Realgymnasiasten "Osram", während die Oberstufe des Huma von "Perikles" sprach.
Wir waren also Schüler einer "Huma"-Klasse, allerdings mit einem kleinen Makel. Als zweite Fremdsprache - nach Latein, vor Griechisch - lernten wir Englisch, während unsere Parallelklasse die einzige neuere Sprache erlernte, die vom Bildungswert angemessen war, also Französisch. Daher waren in unserer Klasse auch nur 35 Schüler, in der U III a jedoch 48. Es gab Klassen mit über 50 Schülern, nach oben wurde etwas ausgedünnt: "Pantalone, du musst dich nicht mit Latein abquälen, das schaffst du sowieso nicht! Werde doch Fliesenleger. Ich habe mir sagen lassen, so ein Fliesenlegermeister verdient mehr als ein Studienrat!" - Die antike Arroganz gegenüber dem Banausen wurde uns vorgelebt.
Das Schullandheim war wie eine ehemalige Reichsarbeitsdienstbaracke, stand in dem Dorf Holzhausen in der Nähe von Kassel und man muss es sich so vorstellen:
"Ein sauberer Holzzaun grenzt das Grundstück ab, Blumenkästen schmücken die Fenster, und von zwei Fahnenmasten flattern die Fahnen [- nein, nicht uns voran -] unserer Stadt und des Landes. So ist aus einem ehemaligen Fabrikgebäude im Laufe der Jahre der Mitarbeit der Elternschaft ein modernes, schmuckes, allen Anforderungen für die Belegung mit etwa 40 Schülern gerecht werdendes Heim entstanden, in dem sich die Jungen wohl fühlen, und das alle äußeren Voraussetzungen für das Gelingen der Arbeit schafft, die dort geleistet werden soll: Erziehung zu sozialem Denken durch Berührung mit den Bauern und Arbeitern, Gemeinschaftsbildung durch das Zusammenleben untereinander und mit dem Lehrer, Erziehung zur Selbständigkeit, körperliche Erholung und Ertüchtigung durch den Aufenthalt in der rauheren Luft Nordhessens, und durch das ausgewogene Verhältnis von Arbeit, Spiel und Wanderung." So StR Dr. Alban im Jahrbuch der Dilthey - Schule 1954/55.
Unsere Mitschülerin Vera wollte und konnte nicht mitfahren, da für sie kein Schlafraum vorhanden war. Daher brauchten wir einige Freiwillige aus der U III a, bis die erforderlichen 40 Schüler zusammen waren. Aus der Parallelklasse, in der Schüler wie Draheim und Mildenberger waren, fanden sich schnell einige, die "die rauhere Luft Nordhessens" dem Wiesbadener Schulklima vorzogen.
Unser Klassenlehrer, Herr Studienassessor Dobe, wurde von einem frischen, lockigen Referendar namens Milch begleitet und unterstützt. Mit einem Bus der Firma Fiehl fuhren wir ohne Herrn Dobe nach Holzhausen, nur Herr Milch war bei uns. Herr Dobe saß auf seiner 250er Ardie, da in Kassel seine Freundin wohnte, zu der er von Holzhausen aus nächtens fahren wollte, wie wir später recherchierten. Im übrigen galt Herr Dobe als Kommunist, was damals [und wieder jetzt?] ungefähr so schlimm war, wie wenn einer heute als Islamist enttarnt würde. Dies brachte ihm bei uns die Sympathie eines Outlaw wie Robin Hood - wir lernten Englisch! - ein.
In Holzhausen entpuppte sich Herr Dobe als jemand, der Lehrer an einer Napola hätte gewesen sein können: Mit uns wurde eine stramme paramilitärische Schulung durchexerziert. Nachtmärsche, Feldschlachten um Apfelsinenkisten, sämtliche Wanderungen nur nach Kompassmarschzahlen folgten aufeinander, spärlich unterbrochen von zaghaften Lateinunterrichtsbemühungen des Referendars, der doch lange nicht die bittere Schärfe unseres Lateinlehrers Dr. K. (Dottore tut ihm nicht die Ehre an, ihn mit vollem Namen zu erwähnen, er hat kein Anrecht auf Erwähnung im Netz) hatte.
Als wir nach Kassel zum "Herkules" wollten, war daher klar, dass ein Verkehrsmittel nicht benutzt werden würde. Von Holzhausen nach Kassel sind es 13 km, von der Innenstadt zum Denkmal noch einmal 7 km. Es war zwar erst Anfang Juni, aber die Sonne schien kräftig, die Straße war lange und staubig. Besonders entmutigend in Kassel war es überdies, dass man das Ziel schon von ganz weit sehen konnte, es aber auch nach längeren Beobachtungspausen seine Größe nicht veränderte, es erschien unerreichbar. Zudem gingen wir noch entlang einer Straßenbahntrasse, wobei die einzelnen Straßenbahnzüge uns in der Regelmäßigkeit ihres Fahrplans überholten.
In Dottore wurde der Wunsch übermächtig, wenigstens ein Stück mit der Straßenbahn zu fahren. Schon der Gedanke an die kühlen Holzbänke mit den Messingschrauben, an den Fahrtwind, sogar nur die Vorstellung, sitzen zu können, spornte ihn zu höchster Anstrengung an, wie er diesem elenden Marschieren entrinnen könnte. Nun gibt es seit alters her ein perfides Mittel, andere zum Handeln zu zwingen: Man schiebt ihnen Verantwortung zu. Dies ist besonders bei Lehrern erfolgreich, wähnen sie sich doch von jeher schon "mit einem Bein im Zuchthaus". Dottore aktivierte also einen im Jahr zuvor erlittenen Hitzschlag und erklärte meinen Mitschülern - tapfer weitermarschierend - , mir würde genauso schlecht wie im vorigen Jahr bei eben jenem Hitzschlag. "Dem Pantalone ist schlecht, der bekommt wieder einen Hitzschlag von der Sonne!" Besorgt erkundigte sich Herr Dobe, wie beiläufig erwähnte Dottore den Vorfall aus dem Jahr zuvor. Offensichtlich markierte er sein tapferes Weitermarschierenwollen zu vital, jedenfalls beschloss Herr Dobe, Dottore zwar vor Sonnenschein zu schützen, ihn aber nicht in die Straßenbahn zu setzen.
Herr Milch trug eine Kollegmappe in der Hand; das war eine jener aus beige-braunen Plastikmaterial gefertigten dünnen Mappen, die mit abgerundeten Ecken und zwei Reißverschlüssen damals neben pastellfarbenen Gabardinejacken ohne Kragen das Erkennungszeichen der Lehrer waren. Herr Milch wurde nun - heute würde Dottore sagen "dienstlich" - von Herrn Dobe aufgefordert, Dottore auf dem weiteren Weg mit Hilfe der Kollegmappe Schatten zu spenden, jedenfalls solle sein Kopf immer im Schatten sein: "Sonst fällt mir der noch um!"
Und so marschierte Dottore nun von da an durch ganz Kassel im Schatten der Kollegmappe, die der geduldige Herr Milch immer so zwischen die Sonne und Dottores Haupt hielt, dass es im Schatten war. Sein Ziel hatte er nicht erreicht, aber nun konnte er auch nicht mehr von seiner Hitzschlaggefährdung weg, ohne das Risiko einer Ahndung einzugehen. Die Mitschüler feixten, aber treu und gehorsam hielt der Referendar an der ihm erteilten Anordnung fest, mochte er auch an deren sachlicher Berechtigung immer mehr zweifeln. Anfangs fühlte Dottore sich wie Robinson, dem von Freitag ein Sonnenschirm aus Fellen hinterher getragen wird. Später wurde es ihm zusehends peinlicher und so entließ er schließlich bei Eintritt in den schattigen Park des Schlosses Wilhelmshöhe huldvoll seinen Schattenspender.
Befreit stürmte Dottore mit seinen Mitschülern durch den Park bis zum Oktogon, auf dem die Riesennachbildung des farnesischen Herkules steht. Auf einem Treppenabsatz machten alle Halt und schauten nach unten. Es kam eine Mädchenklasse, eines der Mädchen trug eine gelbliche Nyltestbluse. Nyltest war eines der ersten Kunststoffmaterialien in dieser Zeit und unter bestimmten Bedingungen durchsichtig. Diese waren gerade gegeben, man erkannte mehr als man ahnen musste, dass dieses Mädchen einen schwarzen Büstenhalter trug. Dies wiederum veranlasste Dottore, sich grossprecherisch über die nun doch verhüllten sekundären Geschlechtsmerkmale des Mädchen auszulasssen. Seine Mitschüler hörten ihm zwar zu, schauten ihn aber dabei so eigenartig an, so dass er sich umdrehte und dabei Herrn Milch entdeckte, der - unbemerkt von Dottore - hinter ihn getreten war.
Damals waren derartige Ausführungen in der Schule äußerst verpönt, man lebte schließlich noch in den fünfziger Jahren. Aber, Herr Milch sagte wiederum nichts, verpetzte ihn auch nicht bei Herrn Dobe, nur den Blick, mit dem er Dottore anschaute, wird er nie vergessen: Ohne sich in die Reihe derer einordnen zu wollen, die behaupten, sie könnten Gedanken lesen, ist er sicher, dem Blick die ironisch-verzweifelte Erkenntnis entnommen zu haben, "deswegen habe ich doch wohl nicht durch ganz Kassel die Kollegmappe über seinen Kopf gehalten".
Wenn Dottore dies alles nicht so genau noch wüsste, er würde selbst nicht glauben, dass so etwas geschehen ist, geschehen konnte. Dottore hat die Geschichte auch oft erzählt, weil sie in ihrer Absurdität über die Schule damals mehr aussagt als manche Analyse. So hat also diese Geschichte auch wiederum selbst eine Geschichte und zudem ihm 33 Jahre danach zu einem Erlebnis verholfen, das er zuvor nur in der Anekdote von Hebel über das Bergwerk zu Falun lesend erfahren hatte: Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit.
Als Dottores Sohn das Gymnasium besuchte, das – mit anderem Namen – das alte Huma ist, traf er einen reizenden älteren Herren mit weiß gelockten Haaren, einen Lehrer, der kurz vor der Pensionierung zu sein schien. Es war – leicht zu erraten – jener brave und liebenswürdige Referendar, der in der Geschichte immer jung geblieben, während Dottore selber immer älter geworden war. Die Gnade der selektiven Erinnerung hatte ihm allerdings die Episode aus dem Gedächtnis gestrichen.
Pantalone meint: So, wie der den Dr. K. zu hassen scheint, so geht er auch mit mir um.
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