Wenn man älter wird, sollte
man rechtzeitig beginnen, seine Unterlagen durchzusehen. Ach, was hat sich
alles angesammelt. Vieles ist mit intensiven Erinnerungen verknüpft, die jedoch
kaum kommunizierbar sind; die Erläuterungen sind so umfassend nötig, dass
selbst gutwillige Nachkommen nach geraumer Zeit nicht mehr zuhören, zu
individuell ist eben die eigene Geschichte. Also sollte man damit beginnen,
seinen Erben nicht zu viel Mist zu hinterlassen. Denen fällt es dann schwer,
harsch zu entsorgen.
Dottore lebte in der Nachkriegszeit
– bedingt durch die Beschränkung von Wohnraum und dessen Heizbarkeit – mit
seinen Verwandten eng zusammen. Mangels anderer Unterhaltungsmöglichkeiten
wurden die alten Alben öfters betrachtet. Als im Mai 1975 eine Tante starb,
schaffte es Dottore nicht, die Alben mit den Urlaubsreisen 1931 und 1932 nach
Spindelmühle und Kühlungsborn wegzuwerfen. Nun stehen sie seitdem unangesehen
immer noch herum, dazu dann noch der eigene Schrott. Soll man sie in den
elektronischen Orkus stecken, also scannen und dann wegschmeißen? In eine
bewegliche Festplatte mit 2 TG passt viel Geschichte, die aber letztlich nur
aus unerheblichen Geschichtchen besteht. Man ist sich selbst das Maß der Dinge,
aber schon die eigene Ehefrau sieht dies – gottlob – anders.
Diese Klage hatte Pantalone des
öfteren vernommen und will auch etwas zusteuern. Als er noch ausgiebig in der
Dunkelkammer herumwerkelte, da hat er sich von einem S-W Negativ zwei Abzüge
gemacht, die er gleichsam als Beleg für die Subjektivität der abgebildeten
Wahrheit aufbewahrte. Er nahm im Dezember 1973 eine recht gefledderte Mühle
südlich von Bremen auf. Diese Bilder will er bewahrt wissen, was Dottore
ausnahmsweise versteht.
Die Kühe und das flache Land
bestätigen den Ort der Aufnahme, Norddeutschland. Die Durchrostung der eisernen
Jalousieklappen ist das Muster an Vergänglichkeit. Der weiße Himmel generiert
fast einen Scherenschnitt.
Nun möchte man rasch in einen
regensicheren Unterstand, denn auf diesem Bild bricht binnen Sekunden ein
Unwetter aus. Woher kommen die Telegrafendrähte, wo sind die vielen feinen
Löcher in den Jalousieklappen geblieben? Pantalone glaubt sich zu erinnern,
dass es keine Sonne schien, aber regnerisch wäre es nicht gewesen. Die
Wahrheit, nichts als die reine Wahrheit? Das ist eine Chimäre. Schon bei Hegel kann
man in der Phänomenologie des Geistes nachzulesen:
Auf die
Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das
Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit
dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend.
Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht
verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt,
diesen Mittag, die
aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal
geworden ist.
Ach, der Schorsch war schon
ein guter Eskamotierer.
Und was ist mit der Wahrheit,
fragt Pantalone. Sie kann auch durch Abbilden nicht verlieren, aber gleichwohl
schal werden, oder regnerisch, oder norddeutsch.
In Memoriam Gerd Roellecke, den ewigen Rechtshegelianer.
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