Der arbeitende Mensch ist ein spätes Sujet der Kunst. Courbet schuf mit dem „Ursprung der Welt“ nicht nur den ersten, nun nicht mehr heimlichen, also offenen Blick auf die Erotik, sondern mit den „Steinklopfern“ im Jahre 1866 ein Bild, das nur die Arbeit und ihre Last für die Menschen zum Gegenstand hat. Ungefähr zur gleichen Zeit machte sich Sebah daran, Menschen aufzunehmen, die allein durch ihre Tätigkeit zum Objekt seines Blickes und seiner Kamera wurden. Über ihre soziale Stellung weiß Pantalone nichts, wahrscheinlich fallen sie in den Bereich, den wir heute euphemistisch einmal „Ich-AG“ nannten, besser ist das zutreffende Wort der Scheinselbständigkeit. Es wundert Pantalone immer wieder, wie viele verkappte Marxisten (ja, ich weiß, er hat geschrieben, „Tout ce que je sais, c'est que je ne suis pas Marxiste!“) es gibt, wollen sie doch alle seinen Satz durch die Praxis beweisen, dass Gewinne privatisiert, Verluste vergesellschaftet werden. Privatisierer sind bei den Scheinselbständigen die Bereitsteller der Arbeitsmittel (Gestellung eines Sprinters) und Kontrakte, Vergesellschafter die Fahrer, wenn sie krank werden, die Verträge ausbleiben, Unfälle geschehen. Im Osmanischen Reich war das soziale Netz noch anders gehäkelt, allein die Maschen werden eher weiter gewesen sein.
Im Türkischen heißt Lastträger „hamal“, „hamalik“ bedeutet nicht nur Trägerberuf oder Trägerlohn, sondern auch Schufterei oder Qual. In den 1960er Jahren konnte Pantalone in allen Häfen der Levante einschließlich Griechenlands noch zahllose Hamals sehen. Die Container haben doch was Gutes für sich und für die Menschen, diese Schufterei gibt es nun nicht mehr. Damals, als Sebah sie in sein Studio lockte, werden sie solange Taglöhner gewesen sein, bis ihr Alter es ihnen unmöglich machte.
Dem leichteren Gewicht der Körbe steht im Verhältnis zu den Töpfen die erheblich größere Anzahl gegenüber. Körbe gibt es auch in sehr viel mehr unterschiedlichen Größen, Töpfe müssen auf den Herd passen. Korbinian schaut fast versonnen auf den Gegenstand seines Handels, während der Händler der (Kupfer?)töpfe mutiges Voranschreiten markiert. Er ist seiner Ware bzw. deren Funktion nahe, sein Bauch zeigt ihn als „starken Esser“ im Sinne von Karl Kraus. Alle diese Hausierer und Straßenhändler müssen eine starke Stimme gehabt haben, ihre Rufe hallten durch die Viertel Konstantinopels.
Die Kiepe mit Äpfeln gefüllt wird schon ihre 40 kg gewogen haben, Pantalone möchte gerne wissen, wie der Verkäufer es schaffte, Äpfel auf die Waage zu bringen bzw. die Kiepe ab- und wieder aufzusetzen. Sein Kollege verhökert auch eine Frucht, nur welche? Es könnten aber auch Zwiebeln gewesen sein. Beide haben sich mit ihrem Schicksal arrangiert, sogar ein leichtes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Diese Bilder kann Pantalone nicht kommentieren, ohne den in seiner Familie zum Standard gewordenen Satz zu zitieren: Türkische Buben mit Sesamkringel; er stammt von Wolf Koenigs, Westtrürkei, vor Seite 81. Das Bild ist treffend, der Satz ein wenig altväterlich. Jedoch muss er es wissen, war er doch lange genug in der Türkei, der Fama nach für ein Familienmitglied zu lange. Noch heute wird überall in Kleinasien simit (Sesamkringel) verkauft, muhallebi (Reismehlpudding) ist nicht mehr so gefragt.
Jedem männlichen Reisenden in die Türkei seien zwei Sachen empfohlen: der Besuch eines Hamams (bevor sie ganz verschwinden!) und das Aufsuchen eines Berber. Dort wird einem bei der Order des „Kopfwaschens“ tatsächlich der gesamte Kopf gewaschen, ein seit der Kindheit vergessenes Gefühl tritt dabei dann wieder auf, wenn auch die Ohren intensiv gesäubert werden. Bei der Rasur flämmt einem der Friseur die Haare in den Ohren aus, mit einem Wischer weht er die Spiritusflamme ins Ohr. Eine andere Welt. Dabei geht es sparsam zu: Obwohl Wasserhähne für warm und kalt vorhanden sind, wird das warme Wasser für das Rasieren in einer Wärmflasche bereitgehalten, so wie damals schon bei dem „fliegenden Figaro“. Brav hält der Kunde die Schale unter seinem Kinn.
Zum Besuch eines Teppichladens kann Pantalone nur diejenigen animieren, die kühl und herzlos sind. Ansonsten verlässt man das Ladenlokal nach Erwerb eines im Grunde nicht benötigten Bodenbelages. Zuerst lernt man einen Freund kennen, der in der eigenen Stadt gewohnt hat, dann wird ununterbrochen Cay serviert, während zwei Mitarbeiter pausenlos für einen schuften, indem sie Teppiche umschichten. Mit der Menge ihres vergossenen Schweißes wächst proportional das Gefühl beim Besucher, eine Verbindlichkeit eingegangen zu sein. Dann gibt es kein Entrinnen mehr. Solche Methoden waren bei der kleinen Menge von Teppichen noch nicht möglich, aber geschickt wird er wohl gewesen sein.
Sorbet (Wassereis) ist durch die Produkte von Unilever verdrängt worden, auch hausgemachte Säfte (von der Oma in der Waschküche gepresst) gibt es nicht mehr. Diese Ereignisse der Zukunft erahnt unser Sorbetverkäufer nicht im entferntesten. Ihm dauert trotz des Lohnes der Aufenthalt im Studio von Pascal Sebah zu lange, er muss doch noch nach Hause, um frisches Eis zu holen.
Der Verkäufer der Melonen war weder für Geld, noch für gute Worte dazu zu bewegen, das Studio des Fotografen aufzusuchen. „Wenn du mich fotografieren willst, dann hier, ich habe noch meine Tour vor mir. Dein Geld will ich nicht!“ Keiner seiner Kollegen schaut so fröhlich und selbstbewusst aus wie er. Er hat sein Schicksal nicht nur akzeptiert, er will auch so und nicht anders leben. Ihn muss Camus vor Augen gehabt haben, als er am Mythos des Sisyphos arbeitete. Ihm verdanken wir die Erkenntnis von Camus: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Wie anders dagegen der Dattelverkäufer, bekümmert sieht er aus. So unabänderlich ist seine Miene, dass der Fotograf beschloss, von ihm eine Reihe von Aufnahmen zu machen.
In der Profilaufnahme erkennt man, dass er einen jetzt noch leichten Buckel hat, seine Tätigkeit wird dieser Entwicklung sicherlich nicht entgegen arbeiten. Bei der rechten Aufnahme war die Signatur abgerissen, die jetzt vorhandene ist neu eingefügt. Sie ist zutreffend, was das Bild betrifft, aber wahrscheinlich falsch, wenn man die Intensionen des Fotografen berücksichtigt. Trotz Nargileh und Kaffee hebt sich nicht die Stimmung des Mannes.
Nun hat der Sohn Sebah hat den Dattelverkäufer umfunktioniert, er tritt jetzt als Bauer mit Nargileh auf, seine Abgerissenheit gerinnt zum Malerischen. Das hätte der Papa nicht gemacht, Ärmlichkeit wurde nicht geleugnet, war aber auch nicht dem Voyeurismus ausgesetzt.
Und weil am Anfang die Erotik gestreift wurde, soll es auch mit ihr enden. Sebah machte seine Photos für Menschen, die sich auf die „Grand Tour“ begaben, zuerst Italien, dann Ägypten, danach Palästina, die Türkei und schließlich Griechenland durchstreiften sie auf vorgegebenen Routen. Neben dem Bildungskonsum rieselte die Hoffnung nach erotischen Abenteuern in den Traumgefilden des Orients durch die Hirne der Touristen. So wurde denn die Erwartung der Reisenden schon vorab aufgebaut.
Die mandeläugige Schönheit sollte wohl dem durstenden Europäer mit kühlem Trunk erfrischen und ihm auch sonst Annehmlichkeiten bereiten. Fatal an der Aufnahme – in einem Studio in Europa – sind die Knitterfalten im Gewand der Schönen – von der Staffage ganz abgesehen – , zeigen sie doch, dass das Gewand nicht vor der Aufnahme getragen wurde. Steigerte sich gleichwohl die Lust des petit touriste, dann gar gab er sich der Illusion hin, eine leibhaftige Odaliske empfänge ihn heimlich in ihrem morgenländischen Harem, geflissen und nur ihm zugewandt.
Die letzte Aufnahme wird im Netz Sebah zugeschrieben, Pantalone hat da so seine Zweifel. Der Meister hätte die Fußzehen nicht abgeschnitten, allerdings ist die Erbärmlichkeit der beiden Frauen getroffen. Desillusioniert und fast gelangweilt lassen sie nun auch die Sitzung im Studio des Fotografen über sich ergehen, so sah dann wohl doch eher der Zauber der Erotik aus.
Wer eine Reise antritt, um sich Bildung zu kaufen, der muss eben auch für die Liebe bzw. deren Surrogat bezahlen.
Ist es erlaubt die Fotos von dieser Seite zu kopieren und benuzten zu meinem Website? Danke
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