Pascal Sebah wird von Pantalone als Überbegriff genommen, obwohl zwischen Vater, Bruder, Sohn (und dessen Partner Joallier sowie dem Techniker Laroche) zu unterscheiden wäre. Kunsthistoriker streiten bekanntlich oft darüber, ob ein Kunstwerk vom Meister selbst oder von einem oder gar mehreren seiner Schüler stammt. Da der Verkauf nicht ansteht, ist der Geldwert der Bilder nicht entscheidend, auch nicht der fragwürdige Begriff der Originalität, zumal die Reproduzierbarkeit dieser Kunstwerke Vorrausetzung ihrer Existenz ist; es geht nicht um Wandaktien, sondern um ästhetische Freuden.
Also die Sebahs (nur hier einmal im Plural) haben eine Fülle von Menschen fotografiert, den Bildern ist eigen, dass den Abgebildeten nie ihre Würde abhanden gekommen ist. Zu den eigentlichen Personenbildern ein andermal mehr. Heute widmet sich Pantalone den Menschen, die auf den Bildern aus Griechenland als Staffage auftreten, obwohl Sebah das nie so aufgefasst hat. Sie sind als Größenvergleich ins Bild genommen worden, aber zugleich hat Sebah auch versucht, ihre Person darzustellen. Das Wort vom Typ ist bei Menschen sowieso schlicht unangebracht, da es sich bei jedem Menschen um ein Original handelt und nicht um ein vervielfältigtes Modul, einen Typus. Den abgebildeten Menschen wurde durch das Festhalten auf den Bildern gleichsam eine Unsterblichkeit verliehen; sie mögen in ihrer Individualität nicht mehr fassbar sein, aber atmen noch immer ihre Persönlichkeit aus.
Zur Technik:
Die „großen“ Bilder von Sebah, die fast alle aus der gleichen Quelle stammen, sind klein geworden, damit der Blog nicht zu sehr anschwillt durch überflüssige, weil anderweitig zu erlangende Daten. Wer sich die Bilder in einer Größe einverleiben will, die die Betrachtung ihrer Lieblichkeit ermöglicht, der muss sich an: http://imagesvr.library.upenn.edu/i/image/all/ wenden, dort sind sie in fünf verschiedenen Dimensionen erreichbar. (Aus Gründen, die Pantalone nicht kennt und auch nicht kennen will, spielt sich jetzt BING beim Aufrufen dieser Seite auf.) Die Größe der Scans erlaubt die Sicht auf die Alterungsrisse der Fotografien. Die Ausschnitte haben die Maße der größten Dimension dieser gescannten Abzüge.
Sebah ist in einem großen Bogen um die Akropolis in Athen geschlichen, es gibt aus der Ferne mindestens sechs bekannte Aufnahmen, vom Schloss aus, von den Bahngleisen, vom Olympeion, vom Illissos(2) und diese hier vom Musenhügel. Dabei sind zwei Menschen im Mittelgrund sichtbar; der Sitzende scheint vergnügt sich die Landschaft anzusehen, der Stehende war in einem Zeitsprung 1960 kurz in Spanien und ist seitdem von der Straßenreklame für Sandemann fasziniert.
Die den Südeuropäer eigene theatralische Grundbegabung führt bisweilen zu sozialen Missverständnissen im Kontakt mit den Bewohnern nördlicher Gefilde. Bevor die Evzonen damit uniformiert wurden, war die Art der Kleidung der Gut-Gegürteten eine ländliche Tracht. Dieser hier am Torgebäude, das seinerzeit Mnesikles entworfen hat, übertreibt es ein wenig. Er erinnert Pantalone in dieser Pose an ein Gemälde von Slevogt: „d´Andrade als Don Giovanni“, der nun großartig und angeberisch zugleich zum Champagnerlied ansetzt. Gestehen muss Pantalone allerdings, dass ihn die Haltung des Mannes rührte, denn der durch die Alterungsrisse lädiert aussehende Umhang hat Pantalone ihm aufbereitet; die dunkel gehaltenen Falten wurden eingearbeitet, um keine Diskrepanz zwischen Geste und Kleidung aufkommen zu lassen, vielleicht etwas, was nur ein Nordeuropäer empfindet.
Pantalone wollte eigentlich etwas über den fast versonnen da sitzenden Griechen im weißen Hemd schreiben, als sein Auge, das Robert mit 49jähriger Erfahrung als „falkenhaft scharf“ bezeichnet, auf einen Stein inmitten des Schuttes fiel. An der Säule lehnt ein ebener, abgeflachter Stein, in dem eine ringartige Vertiefung mit einem seitlichen „Auslauf“ zu sehen ist. Dies ist nun kein Architekturteil, sondern ein Olivenpressstein. Geerntete Oliven müssen zuerst den bitteren Saft loswerden, darum zerdrückte man sie auf solch zugerichteten Steinen, später dann wird die Masse gepresst, um Öl zu gewinnen. Das Vorhandensein eines solchen Steines, der nun eindeutig der Landwirtschaft zuzuordnen ist, zeugt von dem nachantiken bis frühmittelalterlichem Schicksal der Stätte, die einst das Zentrum des attischen Reiches war. Also, mein liebes Weißhemd, erst bei nächster Gelegenheit wird Pantalone dir Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Am oberen Bildrand ziehen sich zwei Stufen des Parthenon entlang, offensichtlich zu hoch, als dass man hinauf schreiten könnte. Der Kanon hat zurückgeschlagen: Alle Bauglieder stehen insbesondere in der dorischen Ordnung in einem Größenverhältnis zu einander. Wachsen wie bei diesem Tempel die Säulen, so wachsen auch die Stufen, sie erlauben kein normales Hinaufgehen, aber das taten auch nur wenige, da der Tempel nicht für den Gottesdienst benutzt wurde, er war nur Behältnis der Gottheit. Das „gemessene Schreiten“ der Priester hätte Pantalone gern sehen mögen. Den vier Figuren, die markanten Punkte des Bildes – die Gleichsetzung mit einer antiken Statue ist nun, weiß Gott!, nicht ehrenrührig – ist das alles gleichgültig. Der rechts stehende Evzone trägt solche Opanken, wie die, die Pantalone 1958 in Thessaloniki in einem Geschäft für den Bedarf von Hirten kaufte. Heute steht darüber geschrieben, es seien Schuhe mit biegsamer Sohle gewesen, nix da. Steif und fest war das ca. 6 mm dicke Leder. Der Nächste trägt einen Fez, könnte also ein Türke sein, der Athen besucht; er schaut vergnügt drein, so, als gehöre Griechenland noch zum Osmanischen Reich. Das endete 1922, kurze Zeit später war es auch mit dem Fez vorbei. Die Wärter auf vielen Bildern erkennt man an ihren Kappen, die sie von den Nordstaatlern übernommen haben könnten.
„Guck mal, Pascal, der eine lungert so herum, und du hast beide heute morgen für wirklich teuer Geld engagiert, aber der eine ist ein Penner!“ „Weißt du, Antoine, im Labor bist du wirklich Spitze, aber hätte ich dich bloß nicht mitgenommen auf diese Reise.“ „Aber ich habe doch recht!“ „Als Franzose verstehst du nur französisch, ich als Levantiner habe daneben nicht nur arabisch, sondern auch demotiki, also griechisch, gelernt. Ich weiß daher, der kleinere macht sich Sorgen wegen seiner Herde, sein Bruder kommt mit den Hunden nicht zu recht. Also schlafft der laufend ab und, liegend macht er doch auch eine gute Figur!“ „Na, ja, ich muss die Bilder nicht verkaufen!“
Auch hier wird der etwas archäologisch beeinflusste Blick auf einen eigenartigen Gegenstand gelenkt, am Fuße der Ecksäule liegt in seitlicher Richtung: ein Maßstab. Er hat zehn unterschiedlich gefärbte Felder, ermöglicht also dem Betrachter, Größen auf dem Foto zu erkennen. Aber welches Maß ist abgetragen? Das metrische System wurde in der Türkei für das Volk erst 1923 eingeführt, auch das damalige Königreich Griechenland war zu diesem Zeitpunkt noch weit vom „Meter“ entfernt, noch 1958 wurden Pfirsiche nach Oka, ca. 1 ¼ kg, verkauft. Aus dem, was heute in der Wissenschaftssprache als „Kontext“ bezeichnet wird, ist zu schließen, dass Sebah vor 1875 seine Aufnahmen in Griechenland machte. Die Säulen des Theseions haben einen unteren Durchmesser von 1,02 m, vergleicht man dies mit dem Maßstab auf dem Bild, so scheint es sich tatsächlich um ein Metermaß zu handeln. Zu der Aufnahmezeit war der Tempel offenbar ein Treffpunkt der spärlichen Flaneure Athens gewesen zu sein, in den Interkolumnien sitzen oder stehen sie und beobachten fast gelangweilt Pascal Sebah, der zwecks Vermeidung „stürzender Linien“ seine Balgenkamera an die Grenze ihrer Möglichkeiten führt. Nur der Wärter schaut interessiert zu.
Auch nahe der Säulen des Olympischen Zeus stehen auf den Bildern des 19. Jahrhunderts immer Stühle herum, wahrscheinlich wurde auch Kaffee ausgeschenkt. 1960 suchten Berve und Hirmer, beide hatten im Dritten Reich Erfahrungen gemacht, allerdings in unterschiedlicher Ausrichtung, nach einem jungen, aber kompetenten Autor, der die weihevollen Texte Berves und die instruktiven Bilder Hirmers fundiert ergänzen sollte. Gottfried Gruben schrieb daraufhin ein Jahrhundertwerk. Man kann seitdem über griechische Tempelarchitektur nichts schreiben, ohne ihn zitieren. Forsch schrieb der 30-Jährige damals: „Hätte Sulla statt einiger Säulen den ganzen Tempel nach Rom überführt, ragte er da auf dem Gipfel des Kapitolinischen Hügels über der Ewigen Stadt, - er würde in jener ihm gemäßeren Umgebung als das größte Bauwunder neben dem Pantheon gelten, und Athen wäre um wenig ärmer geworden.“ Solche Gedanken hegte seinerzeit der Wärter nicht, er wusste nur, dass Sebah zu Fotoaufnahmen kommen würde. Also hat er seine Kinder in den Sonntagsstaat kleiden lassen, neugierig schauen alle dem Fotografen zu.
Milos war sofort bereit, als sich als Zuschauer abbilden zu lassen. Als Zigeuner möchte er den Vorurteil über seine Herkunft überwinden, aber alle sprechen ihn wegen seiner Hautfarbe an. Obwohl er nicht zur Schule gehen konnte, hat er lesen gelernt und möchte einen normalen Beruf ergreifen. Aber die restlichen Bayern in der Verwaltung weisen ihn immer ab. Karl Fuchs jun. ist der Sohn des bayrischen Bierbrauers, der unterhalb des Lykabettos mit dem Gewerbe begann. Bier mögen die Griechen, jedenfalls musste sein Vater nicht mit der Flucht des Königs Otto auch das Land verlassen. Sein Vater hat bestimmt, dass er ins Geschäft eintreten soll, er möchte lieber Archäologie studieren, es scheint nicht zu klappen. Nun posiert er aus Gefälligkeit für den Fotografen aus Konstantinopel hier im Theater; er hat aber kein Geld von ihm annehmen wollen, sondern gemeint, er solle das dem Zigeuner zusätzlich geben.
Der alte Theodoros ist – so sagt er immer – so alt wie das Jahrhundert. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr war er Klephte in der Gegend nördlich von Metropolis. Ab Beginn der Befreiungskriege war er ein gefürchteter Kämpfer, er soll über 20 Türken erlegt haben. Nach Hause kann und will er nicht. Seine Familie hat sich mit den Kapsoulis jahrzehntelang bekriegt, ist dabei fast ausgerottet worden, auch kennt er in Arkadien kaum noch Menschen seines Alters. Das Königreich der Griechen zahlt ihm seit 23 Jahren eine Rente, er lebt mit einer jungen Arnavut zusammen, will sie aber nicht heiraten. Zusätzlich verdient er sich sein Geld für den täglichen Gang ins Kafeneion dadurch, dass er sich von Fotografen aufnehmen lässt.
Wenn das Verdikt der damaligen Erwachsenen stimmt, dann waren Pantalone und Dottore in ihrer Jugend das, was die Leute damals Lausbuben nannten. Aber, dieser Ausdruck wurde von den beiden gehasst. Auch hat die Dauerverfilmung nebst entsprechendem Breitwalzen der Werke von Ludwig Thoma zur Abwertung dieses Erwachsenenbegriffes geführt. Richtig ist aber, dass beide auf der Straße spielten, in Gärten einstiegen, auf Bäume kletterten, mit Ami-Heftchen schrottelten, die Trümmergrundstücke waren viel toller als das, was sich heute Erzieher für sog. Abenteuerspielplätze einfallen lassen. Jede Altersriege – dies bemerkt schon Platon in „Der Staat“ – hält ihre Zeit für die beste, die nachfolgende Jugend für verkommen. Aber die Fähigkeit, auf einen Baum zu klettern, bringt nicht nur ggf. Äpfel ein, sondern führt auch dazu, dass man sich koordiniert bewegen kann. Mühselig wird das heute im Klettergarten mit anschließender Belohnung im McDonald gelernt. Diese beiden hier an der Metropoliskirche sehen lieb und verwegen zugleich aus. So muss es sein.
Kakis ist aus Kreta, er hat einen kretischen Vater und eine türkische Mutter. Bis die beiden heiraten konnten, hat es jahrelangen Streit zwischen den Dörfern gegeben. Für die Verwandten seines Vaters ist er ein Türke, für die seiner Mutter ein Kriti. Schon in der Schule hat er sich deswegen mit seinen Mitschüler herumprügeln müssen, seitdem hat er immer ein Messer dabei. Nun ist er seit fünf Jahren in Athen, hat aber nichts richtiges machen können, die Kunde vom „Türken“ ist ihm gefolgt, dabei sieht er seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten aus. Als der Fotograf ihn ansprach, hat er auf Türkisch geantwortet, weil er auf der Ausrüstung das Schild mit Konstantinopel entdeckte und seine Mutter es ihm beigebracht hat. Vielleicht geht er nach Kavalla, dort gibt es im Osmanischen Reich genug Griechen.
„Ich bin Georgios, der Kutscher. Ich wurde am Omoniaplatz von dem Fotografen angeheuert, ihn mit seiner Ausrüstung nach Salamis zu fahren. Da er den Fuhrlohn für den ganzen Tag voraus zahlen wollte und das auch gemacht hat, habe ich nichts gesagt, aber weder auf Salamis, noch dorthin gibt es etwas Sehenswertes, da der Herr schon in Daphni war. Nun hat er mich vorausgeschickt, er ist dann aber immer weiter zurückgegangen, sicher wird meine schöne Kutsche nur ganz klein auf dem Bild sein. Denn er hat mir versprochen, ein Bild zu schicken. Das nützt mir aber nur, wenn die Leute mich darauf erkennen. „Harr!“, die Pferde bleiben aber auch nicht stehen, kein Wunder bei den herumschwirrenden Bremsen. Die Strecke nach Salamis ist ziemlich öde. Den Kerl im Straßengraben kenne ich, der hat wegen Räubereien 5 Jahre gesessen. Er kennt mich auch und weiß, dass ich immer eine Pistole dabei habe. Dieser Fotograf regt mich auf, jetzt sind wir schon fast eine geschlagene Stunde hier, hoffentlich geht’s bald weiter!“
Pantalone hat sich schon kritisieren lassen müssen, weil es Sebah 3 und 4 in den Blog stellte, aber nicht zuvor Sebah 2. Es geht eben nicht alles auf Anhieb!
"Er kann eben noch nicht einmal bis drei zählen", meint Dottore, "außer, wenns um Geld geht."
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