Mittwoch, 18. Juli 2012

Das unterdrückte Zitat als Indikator des unterdrückten Denkens

Statt sich durch die vielen Bände der „les guides bleus“ zu quälen, kann man die Kurzfassung von Engels selbst lesen, die da lautet: Herrn Eugen Dühring`s Umwälzung der Wissenschaft“. Dort schreibt er in den Jahren 1876 bis 1878 auf Seite 167/8:

„Aber das eigne Gemeinwesen und der Verband, dem es angehörte, lieferte keine disponiblen, über-schüssigen Arbeitskräfte. Der Krieg dagegen lieferte sie, und der Krieg war so alt wie die gleichzeitige Existenz mehrerer Gemeinschaftsgruppen nebeneinander. Bisher hatte man mit den Kriegsgefangnen nichts anzufangen gewußt, sie also einfach erschlagen, noch früher hatte man sie verspeist. Aber auf der jetzt erreichten Stufe der »Wirtschaftslage« erhielten sie einen Wert; man ließ sie also leben und machte sich ihre Arbeit dienstbar. So wurde die Gewalt, statt die Wirtschaftslage zu beherrschen, im Gegenteil in den Dienst der Wirtschaftslage gepreßt. Die Sklaverei war erfunden. Sie wurde bald die herrschende Form der Produktion bei allen, über das alte Gemeinwesen hinaus sich entwickelnden Völkern, schließlich aber auch eine der Hauptursachen ihres Verfalls. Erst die Sklaverei machte die Teilung der Arbeit zwischen Ackerbau und Industrie auf größerm Maßstab möglich, und damit die Blüte der alten Welt, das Griechentum. Ohne Sklaverei kein griechischer Staat, keine griechische Kunst und Wissenschaft; ohne Sklaverei kein Römerreich. Ohne die Grundlage des Griechentums und des Römerreichs aber auch kein modernes Europa. Wir sollten nie vergessen, daß unsere ganze ökonomi-sche, politische und intellektuelle Entwicklung einen Zustand zur Voraussetzung hat, in dem die Skla-verei ebenso notwendig wie allgemein anerkannt war. In diesem Sinne sind wir berechtigt zu sagen: Ohne antike Sklaverei kein moderner Sozialismus“.

Dann weiter auf Seite 168/9:
„Es ist klar: solange die menschliche Arbeit noch so wenig produktiv war, daß sie nur wenig Überschuß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der Produktivkräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte, und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten. Die einfachste, naturwüchsigste Form dieser Arbeitsteilung war eben die Sklaverei. Bei den geschichtlichen Voraussetzungen der alten, speziell der griechischen Welt konnte der Fortschritt zu einer auf Klassengegensätzen gegründeten Gesellschaft sich nur vollziehn in der Form der Sklaverei. Selbst für die Sklaven war dies ein Fortschritt; die Kriegsgefangnen, aus denen die Masse der Sklaven sich rekrutierte, behielten jetzt wenigstens das Leben, statt daß sie früher gemordet oder noch früher gar gebraten wurden.“

Also keine moraltriefende Onkel-Toms-Hütte-Würdigung, sondern kühle Analyse, beruhend auf den Einsichten der „sozialökonomischen Scheiße“, wie das Marx gelegentlich (in seinen Briefen) auszudrücken pflegte.

Beim Durchdeklinieren seiner Diskurstheorie verfiel Jürgen Habermas auch auf das RECHT, zur Kunst hatte er keinen Draht, die Musik hatte Teddie schon besetzt, außerdem musste er dem ursprünglichen Juristen Luhmann mal zeigen, was eine Harke ist. Dementsprechend sonderte er für diesen Bereich ein Buch ab. Dottore findet es mies, weil er in ihm nicht vorkommt. Nein, nicht persönlich, aber seine frühere Berufstätigkeit wird ausgespart. Denn nicht der immerwährende „Kampf ums Recht“, der alltäglich zwischen Bürgern und Unternehmen, zwischen Anwälten und Richtern schriftlich und mündlich stattfindet, wird philosophisch überhöht, sondern wieder einmal spricht der Weltgeist nur mit sich selbst – das hatten wir doch schon bei Hegel! – getreu der Habermas´schen Maxime: Bedeutsam, aber politisch folgenlos. So eben, als hätte es die 11. These über Feuerbach nie gegeben.

Nun bezieht sich Habermas in „Faktizität und Geltung“ immer wieder auf John Rawls, der seine Vorstellung von Gerechtigkeit aus der Fairness entwickelt. Für Dottore tauchte dieser Begriff zuerst im Englischunterricht auf: Im 19. Jahrhundert frönten junge englische Adlige dem Faustkampf. Sie betrachteten es als ausgesprochen unfair, wenn an einem solchen Wettkampf jemand teilnehmen wollte, der seine Muskeln normalerweise dafür benutzte, körperliche Arbeit zu verrichten. Und es ist doch wirklich unfair, wenn ein Bergarbeiter dem jungen Earl die Fresse poliert!

Aber auch das ist nicht Hauptgegenstand dieses Post, der wie üblich weitschweifig ist. (Diese Weitschweifigkeit kann ein später Reflex auf den mehrere Jahrzehnte währenden Zwang sein, sich in den Schriftsätzen kurz und präzise auszudrücken, also die Umkehrung einer deformation professionelle.) Nun aber zu Rawls. Der schreibt in „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ auf Seite 280:

„Ich habe vorausgesetzt, daß stets für die, welche die geringste Freiheit haben, ein Ausgleich geschaffen werden muß. Die Situation ist stets von ihrem Standpunkt aus zu beurteilen (und zwar aus der Sicht der verfassungs- oder gesetzgebenden Versammlung). Diese Einschränkung macht es nun so gut wie sicher, daß Sklaverei und Leibeigenschaft, jedenfalls in ihren bekannteren Formen, nur dann hinzunehmen sind, wenn sie noch schlimmere Ungerechtigkeiten beheben. Es könnte Übergangsphasen geben, in denen die Sklaverei besser wäre, als die herrschenden Verhältnisse. Man nehme zum Beispiel an, Stadtstaaten, die bisher keine Kriegsgefangenen machten, sondern jeden Gegner töteten, kämen vertraglich überein, stattdessen die Gefangenen als Sklaven zu halten. Man kann nun die Sklaverei nicht mit der Begründung zulassen, die Vorteile einiger überwögen die Nachteile der anderen; doch unter diesen Umständen, da alle der Gefahr der Gefangennahme im Kriege ausgesetzt sind, ist diese Form der Sklaverei weniger ungerecht als die bisherige Praxis. Zumindest ist der Sklavenzustand nicht erblich (das wollen wir annehmen), und er wird von den freien Bürgern mehr oder weniger gleicher Stadtstaaten akzeptiert [auch von den Meliern??]. Diese Regelung dürfte als Fortschritt gegenüber den bisherigen Gepflogenheiten vertretbar sein, falls die Sklaven nicht zu hart behandelt werden. Mit der Zeit wird sie wahrscheinlich ganz aufgegeben werden, denn der Austausch der Kriegsgefangenen ist doch wünschenswerter, die Rückkehr der gefangenen Mitglieder der Gemeinschaft ist den Dienstleistungen von Sklaven vorzuziehen. Doch keine dieser Erwägungen, so phantasievoll sie auch sein mögen, versucht die erbliche Sklaverei oder Leibeigenschaft aufgrund natürlicher oder geschichtlicher Beschränkungen zu rechtfertigen. Ebensowenig kann man sich an diesem Punkt auf die Notwendigkeit oder wenigstens den großen Vorteil solcher Knechtschaft für die höheren Formen der Kultur berufen.“

Statt die Widersprüchlichkeit des geschichtlichen Ablaufes zu begreifen – wie die bei Engels geschieht – tut Rawls so, als könne man sich einmal möglicherweise zu einer zeitweiligen Sklaverei verabredet haben, was dann sogleich liberal und selbstredend undialektisch kalmiert wird. Seine Anti-Engelspassage lebt von der klaren Darstellung des indirekt Kritisierten, die er sich aber selbst als „phantasievoll“ zuschreibt, er zitiert oder widerlegt Engels nicht, er zernutzt ihn. Warum aber setzt Rawls kein Zitat oder nennt seinen Widerpart? Er musste davon ausgehen, erhebliche Teile seiner Leser kennten den Ursprungstext. Eine rein zufällige Überschneidung scheidet aus, weil die Vertragspartner – „die Stadtstaaten“ – unmittelbar an den Ausgangstext anschließen, zudem wird dem Ergebnis der Engels´schen Betrachtung ausdrücklich widersprochen. Es bleibt nur ein absichtsvolles Verschweigen der Quelle. Unredlichkeit wird man einem Autor nicht unterstellen dürfen, der sich seitenlang über Fairness verbreitet, zudem hat sich Rawls während seiner Militärzeit aus achtenswerten Gründen der Offizierslaufbahn widersetzt.

Der Text erschien 1971, also fast 100 Jahre nach Engels, „by the President and Fellows of the Harvard College“, wo Rawls Professor für Philosophie war. Trotz seiner Position erschien es ihm tunlich, einen der Väter der Alternative zum gegenwärtigen Wirtschaftssystem zu unterschlagen. Die Universität von Harvard ist von Spenden aus der „Wirtschaft“ abhängig, die Spender hätte es irritiert, wenn an ihrer Universität jemand mit Marxismus ernsthaft sich beschäftigt. Auch haben die Vereinigten Staaten das Denken aus der Ära des McCarthy nie gänzlich überwunden, wie aus der für uns schier unglaublichen Klassifizierung von Obama durch seine politischen Gegner als sozialistisch erkennbar ist. 

Aber, lieber Rawls, die Furchtsamkeit (nicht die unklare Angst) vor der Entdeckung der Ideenquelle, also die soziale Realität, hat auch Dein Denken beeinflusst, so wie seinerzeit die soziale Realität das Denken der sklavenhaltenden Philosophen im antiken Griechenland prägte, Diogenes ausgeschlossen, dem jedoch nichts anderes übrig blieb, als zynisch zu sein. 

Pantalone meint: "Erstens so eine lange Pause, zweitens keine Bilder, drittens, warum hackst Du so auf Habermas rum?" 

"Beim nächsten Mal kannst Du Deine Bilder unterbringen. Das mit Habermas hängt mit dem Juni 1968 zusammen. Nach dem Vorwurf des Linksfaschismus konnte er sich beim sog. Schülerkongress am 1. Juni eigentlich nicht sehen lassen. Um von der vor Unmut brodelnden Menge nicht am Vortrag gehindert zu werden, eröffnete Habermas seine Rede mit den Worten: "Ich bin mir mit den hier Anwesenden doch einig, dass die Zukunft der Bundesrepublik in einer sozialistischen und demokratischen Politik liegt!" Sozial hätte er nicht sagen können, dann wäre er ausgebuht worden. Obwohl der gedruckte Text seiner Ausführungen nicht auf seinem Manuskript allein beruht, sondern auch auf weiteren, mündlichen Ergänzungen, hat er den Eingangssatz immer unterschlagen. Entweder er hat gelogen oder es war ihm peinlich. Beides ist verachtenswert. Dass er als Nachfolger von Thielecke den Bundesbedenkenbewahrer abgegeben hat, ändert nichts daran." 

"Woher weißt Du das denn?" 

"Ich war dabei, die vorne agierenden linken Widersacher werden sich auch noch daran erinnern. Auch sie konnten nur den kastrierten Text übernehmen." 

"Dass die Linken sich immer so zerfleischen müssen!" 

"Zum einen ist Habermas nicht links, zum anderen haben sich im Frühchristentum die einzelnen Gruppen genauso befehdet." 

Für Rainer, der das Anspucken des französischen Landadligen rechtfertigte.


1 Kommentar:

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