Mittwoch, 23. November 2016

Rubellins Vor-Bilder 1

Bei der Erfindung der Fotografie kann man sich ein wenig darüber streiten, ob die neue Technik mehr in Frankreich oder in England erdacht wurde, jedenfalls galt Frankreich im 19. Jahrhundert als Hort dieser neuen Kunst, denn als solche wurde diese Abbildungstechnik betrachtet. Viele trachteten danach, in diesem Bereich nun ihr Geld zu verdienen, genauso wie ab 1950 Menschen ihr teilweise sehr einkömmliches Auskommen in der Sparte gefunden hatten, die man früher mit EDV bezeichnete. Nun konnten nicht alle in Paris oder London tätig werden, sie mussten in die Welt ziehen. Alphonse Rubellin wählte sich als Ort seines weiteren Schaffens Smyrna aus, dort verhehlte er nicht, dass er aus der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts stammte, aus Paris.

Dieser Post ist gleichsam ein Abfallprodukt von Pantaleones unstillbarem Such(t!)en nach erst Postkarten, später Bildern aus Smyrna. Mittlerweile ist er bei weit über 3000 Postkarten in allen möglichen Variationen dieser Stadt angekommen, die Menge quillt ihm gleichsam aus den Fingern und lähmt seine sonstige Schaffenskraft. Dabei nun ist er als gründlicher Mensch darauf gestoßen, dass es nicht eine un­endliche Vielzahl an Motiven gibt, sondern dass zählbare, vorhandene Motive immer wieder abgebildet wurden. Und, wenn man immer wieder identische Motive abbildet, kann man auch die gleiche Photographie nehmen, sei es schwarz-weiß oder coloriert, sei es flächendeckend oder als Vignette, sei es zum Holzstich mutiert, immer wieder tauchen dieselben Aufnahmen auf. Vor-Bilder werden die Aufnahmen hier genannt, weil sie später in immer neuen Variationen als Postkarten auftauchen, darüber muss dann Pantalone Schlaues verbreiten, aber eben in dem entsprechenden Blog. Als relativ große Bilder erscheinen sie hier.


Rubellin war nun also in Smyrna, dies ungefähr ab 1860, er war ein vorzüglicher Fotograf, jedoch ein miserabler Dunkelkammerarbeiter. Dieses Bild des Schiffes USS Trenton ist nicht sein frühestes, das Schiff ist erst 1876 in Dienst gestellt worden. Ein Jahr später war es in Smyrna, und dieses Bild ist nun geradezu ein Muster dafür, wie schlecht Rubellin seine Bilder entwickelte bzw. entwickeln ließ. Das mag vielleicht auch daran gelegen haben, dass er in Smyrna schwieriger an die chemischen Materialien heran kam, die er für seine Arbeit brauchte. Geradezu negativ kennzeichnend ist eine Unzahl von kleinen weißen Punkten, die seine Bilder überziehen. Es ist andernorts in diesem Blog schon dargelegt worden, wie das geschieht, jedenfalls fällt Rubellin in der Umsetzung seiner ansonsten sicherlich feinen Bilder weit hinter die Bearbeitung seiner Kollegen Sebah (in Konstantinopel) und Bonfils (in Beyrouth) zurück.


Von dem Hügel, auf dem in der Antike ein Tempel stand, an dessen Hängen sich im 19. Jahrhundert muslimische und mosaische Friedhöfe erstreckten, sieht man auf die große Kaserne, die den Namen Sarıskısla trug. Dottore wird von der Idee besessen, dieses Gebäude sei mit dem großen Hospital identisch, dass die Engländer in der Zeit des Krimkrieges in Smyrna hatten errichten lassen. Aber, dass es nur eine Vermutung. In der Bucht vor der Stadt liegen die Schiffe auf Reede, Hafenbauten sind nicht ersichtlich. Wer genauer hinsieht, kann erkennen, dass der neben der Kaserne stehende Konak noch eingerüstet ist. Allgemein wird behauptet, dies Regierungsgebäude sei 1868 fertiggestellt worden, also muss dieses Bild von Rubellin früher gemacht worden sein.


Eine erste Spur von den zukünftigen Hafenbauten ist auf dem nächsten Bild zu erkennen. Die längliche Struktur inmitten der ankommenden Schiffe ist die Mole, auf der sehr, sehr viel später die Duoane genannten Lagerhallen gebaut wurden. Nördlich des Platzes vor dem Konak sieht man noch eine Bucht, sie ist der Rest des uralten Hafens, der während der Antike und des Mittelalters sich tief in das heutige Stadtgebiet hinein erstreckte. Bei diesen und den folgenden Aufnahmen sollte man sein Augenmerk immer auf die Küstenlinie richten, die selbst in den Zeiten des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts noch lange nicht die schöne Geschlossenheit hatte, die Smyrna um die Jahrhundertwende auszeichnete. Die Küste war eben an Anlandeplatz, dort gab es Lagerhäuser und Stapelplätze.


Auf diesem Bild kann man die auf dem vorigen abgebildete Errungenschaft des Baus der Mole nicht ausmachen, es muss also früher angefertigt worden sein. Ob es von Rubellin stammt, ist unklar. Dies jedenfalls, soweit es die unteren zwei Drittel des Bildes betrifft. Die Bilderdaten schwirren in einem sehr schlechten Zustand durch das Netz, insbesondere die jenseits des Meeresarmes liegenden Berge sind völlig verschwommen abgebildet gewesen. Da aber die unteren 66 % doch sehr interessant waren, spendierte Alphonse Rubellin vom vorhergehenden Bild die Hintergrundberge, die dann Pantalone gekonnt im richtigen Gefüge hinein setzte. Das Bild ist also zu mindestens mit 34 % von Rubellin. Hinsichtlich des Ausbauzustandes des Hafens gilt das gleiche wie für das vorherige Bild. Der Zustand des Gebäudes, das sich dort erhebt, wo heutzutage noch der Konak steht, ist unklar.


Wer der Ansicht ist, dieses Bild sei mit dem vorletzten identisch, hat nicht genau zu hingeschaut. Es ist davon auszugehen, dass der gleiche Fotograf, hier also Alphonse Rubellin, von der gleichen Stelle wenige Zeit später eine zweite Aufnahme machte, mittlerweile aber hatte der Wind gedreht, die Schiffe schwojen in andere Richtung. Dies ist die spätere Ausnahme ist, was sich daraus ergibt, dass das kleine Schiff nunmehr abgelegt hat, sein Bugspriet ist nach links, also nach Westen gerichtet, es läuft aus.


Bei nachlässiger Betrachtung dieses Bildes könnte man zum Ergebnis kommen, es sei ein teilweiser Ausschnitt (und etwas darüber hinausgreifend) vom vorherigen Bild. Dies täuscht jedoch. Zieht man eine Linie von den Bäumen, die räumlich hinter dem landeinwärts gerichteten Flügel des Konak stehen, zu dem weit dahinter stehenden Turm von Agios Photini, dann erkennt man, dass dieses Bild von einem Standpunkt aus gemacht wurde, der weiter östlich liegt. Diese Aufnahme wird zeitlich ziemlich spät sein, da man schon die Gerüste des Gasbehälters erkennt, und den Skelettbau des Wasserturms.


Hier nur ein Bild in die Gegenrichtung, die Küste ist noch sehr unansehnlich, die Hafenmole, die später die Douane genannten Lagerhallen tragen wird, ist noch schmal und dient als Anlegeplatz für meist kleinere Schiffe.


Einige Zeit später war die Mole weiter in die Bucht hinein gebaut worden, auch der Querbau des Wellenbrecher war schon errichtet mitsamt einer künstlichen Insel, auf der es gleichsam eine erste Douane gab, ein sogenanntes Zollaußenlager. Das dunkle Gebilde in der Mitte ist ein großer schwimmender Eimerbagger, der - von einer Dampfmaschine angetrieben - der permanenten Verlandung entgegenwirken musste. Auf dem vorherigen Bild und diesen ist am linken Bildrand der Steinbruch zu sehen, der dem späteren Vorort den Namen gab, Karatasch. So ist das mit den Türken, erst bauen sie einen riesigen Höhenunterschied auf durch die Anlage eines Steinbruchs, um dann diese Höhendifferenz mittels eines Aufzuges zu überwinden, bis heute tut dies brav der Asansör.



Hier nun sind die Hafenbauten erkennbar, die teilweise noch heute vorhanden sind. Die lange Bebauung der Duoane ist fertig gestellt, ihr gegenüber besteht noch die kleine Insel mit dem ursprünglichen Zolllager, die Einbuchtung zum alten Hafen ist verschwunden, der jüdische Friedhof im Vordergrund (Steinplatten) ist noch vorhanden, die in der großen Kaserne dienenden Soldaten sind nach wie vor damit beschäftigt, auf ihrem Übungsgelände Zelte zu bauen.



Auch weiter nördlich an der Küste tat sich etwas: es wurde eine weitere Mole gebaut, die dann später - auch breiter geworden - mit den Gebäuden des Passeportes bebaut wurde. Erkennbar ist neben dem vor der Küste liegenden Schiff schon die Hafenlaterne für das grüne Licht, die Küste selbst ist Holzlager und wenig attraktiv. Auch lassen die Typen der Schiffe darauf schließen, dass sie sich um eine relativ frühe Aufnahme handelt


Die Geschichte Smyrna ist ein Jahrtausende währendes Vorschieben der Küstenlinie. Nun ist aber nicht nur der jeweilige Beginn des festen Landes vorgeschoben worden, sondern die Verlandung ging auch unter Wasser weiter. Das bewirkte, dass Smyrna ein Flachwasserhafen war, in dem es großen Schiffen nicht möglich war, unmittelbar anzulanden,  um Waren und Menschen zu leichtern. Sie mussten deshalb auf Reede liegen und wurden dann mit antriebslosen Schiffen, sogenannten Leichtern oder Prahmen oder Bargen ent- und beladen, ein aufwändiges und teures Unterfangen. Die Bucht ist voll von diesen Schiffen, die auf ihren nächsten Einsatz warten, meist werden sie von kleinen Dampfern hin und her bugsiert. (Diese Prahmen spielen dann später, nämlich 1919 und 1923, eine wichtige bis verhängnisvolle Rolle).


Diese Aufnahme ist zum einen etwas korrigiert worden, nämlich um 3°, ansonsten liefe nämlich wie auf dem Original nach rechts das Meer aus, das Bild war also schief. Zum andern ist ziemlich in der Mitte genau das anzutreffen, was hier einmal unretuschiert belassen wurde, nämlich das Zeugnis des relativ sorglosen Umgangs des Ateliers Rubellin mit dem Medium Fotografie. Wer sich die Bäume in der Mitte genau ansieht, erblickt in deren Mitte wiederum eine graue, eigenartig geriffelte Fläche, so hat damals das Atelier Rubellin offenbare Fehlstellen im Negativ „retuschiert“. Überall sonst hat der umtriebige Pantalone solche Fehlstellen in gekonnter Manier per Photoshop entfernt, hier aber hat er sie zum Zwecke der Demonstration einmal belassen. Wir sehen das türkische Viertel und die Bucht von Smyrna.


Das schöne antike Theater der Stadt Smyrna fiel dem Ehrgeiz eines Wesirs zum Opfer, der sich verewigen wollte. So wurde denn im 17. Jahrhundert das bis zu diesem Zeitpunkt relativ gut erhaltene Theater abgerissen und aus seinen Steinen wurden zwei Han gebaut, Büyük Vezir Han und Küçük Vezir Han. Die Dächer des einen mit den zahlreichen Kaminen sind noch zu sehen, im Hintergrund die tonnenförmige Überdachung eines insoweit „gedeckten“ Basars. Heute finden wir so etwas meist in syrischen Raum, soweit von derartigen Bauten noch etwas erhalten sein sollte.


Nun fällt der Blick auf den Han, den Dottore für den Dervioglu Han hält, wobei dieser und die beiden Vezir Han dem Brand von 1922 zum Opfer gefallen sind: Das, was heute als Basar noch in Izmir steht, ist nichts weiter als ein kläglicher Rest der früheren bunten und weitläufigen Vielfalt.


Hier nun sehen wir von unten die Bäume des moslemischen Friedhofes, die auch auf einem vorhergehenden Bild zu sehen waren, dort mit dem Retuschefleck à la Rubellin in der Mitte. Oben am rechten Bildrand erkennen wir das sogenannte Grab des Polycarp, eine Stelle an der sich heute eine Niederlassung der Feuerwehr befindet mitsamt einem altertümlichen Beobachtungsturm.


Dieses fast panoramaartige Bild zeigt uns im Vordergrund die St. Georgskirche, es ist sicherlich vom Turm von Agios Photini aus fotografiert worden. Der Horizont reicht von Kadifekale über die Vertiefung, in der einst das große Stadion war (erkennbar wieder die Zypresse des Grabes des heiligen Polycarp).


Der Turm war so etwas wie das Wahrzeichen der griechischen Christen in Smyrna, ragte er doch antithetisch zu den Minaretten in den Himmel. Kein Wunder, dass ihm keine Existenz nach 1922 beschieden war. Im Vertrauen: besonders schön findet ihn Dottore nicht.


Dottore ist, was nicht bestritten wird, altertumswissenschaftlich orientiert, er sucht also alle die Dinge, die von unseren Vorfahren stammen, und meist findet er etwas. Gibt er nun seiner Vorliebe nach, so muss er zuerst im unmittelbaren Vordergrund des Bildes die Mönch-Nonnen-Ziegeln erwähnen, die ein Überbleibsel aus der Antike sind. Damals beherrschte man die Kunst des „Ziegel-Brennens“ sehr akkurat; die Abdeckung auf dem Dach gegen die Unbillen der Natur bestand aus zwei unterschiedlichen Arten von Ziegeln, breiten, flachen Ziegeln, die am Rand jeweils hochgewölbt waren, und kleinen runden Ziegeln, die diese Wölbung überdeckten. Nach der Spätantike ging die Fähigkeit verloren, solch breite große Ziegel herzustellen, man konnte nur noch die kleinen runden Ziegel fabrizieren. Und so legte man diese Ziegel einmal konvex, einmal konkav und hatte so auch wieder eine perfekte Dachdeckung, in Mitteleuropa wird diese Dachdeckung als Mönch-Nonnen-Ziegel bezeichnet, heute müsste man so etwas als sexistische Sichtweise diffamieren. Beherrschend auf dem Bild ist eine Moschee, der Hintergrund wird von der Kadifekale genannten Festung bestimmt, sie hat byzantinische, oberitalienische und seldschukische Er- und Überbauer. Fast übersehen auf diesem Bild wird jedoch ein kleines Dreieck, was der Höhe des Bildes nach ziemlich in der Mitte sich erhebt, nach der Breite am Übergang zwischen ersten und zweiten Drittel rechts – links: es ist der damals noch vorhandene, seit kurzem wieder von der Überbauung befreite Rest des Theaters, damals eben noch besser erhalten.


Dieses Haus steht zum Zeitpunkt der Aufnahme am Meer, ein großes und repräsentatives Gebäude. Das Meer erweist sich aber als treulos, heimlich, still und leise zieht es sich zurück. Natürlich nicht, vielmehr wird es verdrängt, mit Schutt und anderem Überresten aufgefüllt. Die beherrschende Lage der die Stadt vor Eindringlingen schützenden Festung von Sandschak beruht auf einem ähnlichen, allerdings mehr natürlich erscheinenden Vorgang: Der Fluss Hermos baute so stark sein Delta aus, dass dieses ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt vom Meer abzuschneiden drohte, die noch ankommenden Schiffe mussten dicht am Südufer der Golfes geradezu „unter den Kanonen“ des Forts einlaufen.



Auf beiden englischen Seekarten ist der neue Verlandungsstreifen deutlich zu sehen (und von Pantalone farbig markiert).


Auf der Ausschnittvergrößerung erkennt man nun zweierlei: Fast in der Mitte des Bildes steht das fragliche Gebäude noch am Meer, etwas oberhalb davon ragt die letzte große Windmühle am Hafen als weißer Turm hoch auf.


Nun endlich ist es geschafft, die neue Küstenlinie liegt mindestens 30 m vor dem beschriebenen, vielfach gezeigten Gebäude, der Modernisierung ist auch die letzte Windmühle zum Opfer gefallen, Smyrna verwandelt seine Küste von einer produzierenden Zone zur Promenade.


Und so sieht sie denn nun aus, die herrliche Uferpromenade der „les Quais“.  Rechts groß und noch zweistöckig das Hotel (und Bierhalle) Krämer. Ganz hinten die Villenreihen der Bellevue, einer der Eigentümer dieser Bauten ist die Familie Guiffray, sie betreibt die Pferdebahn, die von nun an bis in die 1930er Jahren das Bild der Uferpromenade prägen wird, hier sind die Häuschen der Haltepunkte noch nicht errichtet.


Und wieder einmal hatte sich Alphonse auf eines der heckwärts liegenden Schiffe begeben, um von dort eine Aufnahme auf die Quais zu machen, nunmehr ein wenig weiter südlich. Leider sind die Angler nicht statisch genug, ihre Auswurfbewegungen versauen jedes damalige Bild, die Heftigkeit ihrer Körperdrehung verträgt sich nicht mit der zwangsläufigen Dauer der Belichtung.


Der Wasserkante von Smyrna war und ist bis heute die beschriebene Eigenschaft zuzuordnen, meerwärts zu wachsen, die dort stehenden Häuser wollen dahinter nicht zurückstehen, sie wachsen nach oben, werden aufgestockt und mit hohen Anbauten versehen. Heute noch sind beide Veränderungsarten in Izmir festzustellen. Bei dieser Aufnahme nun sind Meister Rubellin ganze vier Pferdebahnwagen vor die Linse gefahren, welch ein Glückstag für ihn!

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