Samstag, 19. Januar 2013

Sprache in Zeiten des geöffneten Mieders


Zu Göttingen blüht die Wissenschaft,
Doch bringt sie keine Früchte.

Heine in: Der Tannhäuser, Legende, 1836

Die algerische Armee hat die BP-Gasanlage in Algerien gestürmt: Alle elf Terroristen sind tot. Die verbliebenen sieben Geiseln waren offenbar zuvor von den Islamisten hingerichtet worden.

Spiegel-Online am 19. Januar 2013


Als Kleist vor über 200 Jahren „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ schrieb, konnte der Verfasser des ersten Zitats schon lesen, nicht aber den Text von Kleist, da er erst nach beider Tod veröffentlicht wurde. Der Verfasser des zweiten Zitats wird zwar Lesen können, aber der Druck, ununterbrochen Texte absondern zu müssen, hindert ihn am Denken und damit daran, vernünftige Texte herzustellen; selbst beim allmählichen Verfassen von Texten stellt sich bei Journalisten kaum mehr als ein Gedanke ein. Das Umwandeln der schlechten Sprache der Presseagenturmitteilung in lesbares Deutsch setzt nämlich ein Nachdenken über die Nachricht voraus.

Liest man langsam die erste Zeile von Heine, sinnt ein wenig nach, so stellt sich Freude und Zufriedenheit ein, man sieht die munteren Wissenschaftler auf Lichtenbergs Spuren. Umso jäher der Umschlag, wenn man in Zeile zwei auf die biologische Realität geworfen wird. Während Heine in den „Nachtgedanken“ neun Strophen braucht, damit man sich im Deutschtümeln behaglich suhlt, um einen dann in der 10. zu einem klaren, übernationalen  Erwachen aufzurütteln, sind es hier gerade nur mehr zwei Zeilen. 

Das Klammern an das Judentum in der Diaspora war jahrhundertelang immer auch eine intensive Beschäftigung mit dem Text der heiligen Schriften, eine Klärung (Interpretation) ihres Sinnes. Jedenfalls scheint den Nachfahren dieser gläubigen Juden eine Achtung vor der Sprache und ein sorgsamer Umgang mit ihr eigen zu sein. Karl Kraus war trotz der Distanz zu Heine – das Lockern des Mieders ließ doch die jungen Frauen freier atmen – ein empfindsamer Leser und Schriftsteller, ihn grauste es vor der Sprache des Schmocks, die ihm einst und uns heute immer wieder vorgesetzt wird. 

Kann man nun von so einem gehetzten Journalistenwesen verlangen, er solle sorgsam mit der Sprache umgehen und genau formulieren? - Treffen sich zwei befreundete Anwälte, die in einem Rechtsstreit Kläger und Beklagten vertreten. Sagt der eine: "Bitte entschuldige den langen Schriftsatz, ich hatte keine Zeit!" - Man muss es verlangen, ist doch die Sprache mehr als ein schäbiges Vehikel mit dem "News transportiert" werden. 

„Was ich an dem zweiten Text auszusetzen habe?“

Satz 1 und  2 sind sprachlich kaum zu beanstanden. Der dritte Satz aber ist nach seinem Wortlaut geeignet, vermuten zu lassen, sein Verfasser spreche den Terroristen staatliche Kompetenz zu. Das gewaltsame Beenden eines menschlichen Lebens wird – kaum ohne Wertung – als töten bezeichnet. Will der Handelnde das geplant, ist gar noch von niedrigen Motiven geleitet, so spricht man von morden. Das Hinrichten ist dagegen der Vollzug einer anderweitig ausgesprochenen Entscheidung, früher sprach man vom Henker als vom Nach-richter. Hinrichten setzt also eine richtende Vorinstanz voraus, diese Tötung ist die Umsetzung eines Rechtsaktes, ob uns das dabei angewandte Recht nun passt oder nicht. Da Recht fast untrennbar mit Staatlichkeit verbunden ist, innerhalb deren es ausgeübt wird, kann eben nur ein Staat hinrichten. Das wahrscheinliche Bekenntnis der Terroristen zur Scharia macht aus der Ermordung der Geiseln keine Hinrichtung. Die Wahl des Tempus in Verbindung mit dem Wort „zuvor“ sei nicht kritisiert, das Wort „offenbar“ verbreitet Läppigkeit, die unangemessen ist.

Nun ist eine Banalität in epischer Breite dargelegt worden, viel einfacher wäre es, der Verfasser hätte länger und öfter Karl Kraus gelesen, was er aber noch nachholen kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen