Freitag, 18. Dezember 2015

Metamorphosen vor 1945

Die Entchristlichung des Lebens verbunden mit der Kommerzialisierung des Daseins bedingen Veränderungen im Ablauf des Jahres, die zu immer stärkerer Leere führen. Zwischen Advent und Vorweihnachtszeit besteht ein riesiger Unterschied, selbst Katholiken wissen kaum noch, dass der Advent liturgisch gesehen eine Fastenzeit ist. Dicke Weihnachtsmänner belästigen seit Anfang November das Stadtbild, unselige Gesöffe werden auf rezent installierten Handelsplätzen vertrieben, wo es nur Überflüssigkeiten zu erstehen gilt. Eine Besinnung auf nicht wohlfeil vertreibbare Haltungen darf nicht stattfinden. Als Agnostiker ist man angeekelt von den Tänzen um immer neue, immer andere „Goldene Kälber“, aber selbst dieses Bild wird langsam unverständlich. Also erzählt Dottore zu Erbauung und zum Nachdenken im Advent 2015 etwas aus seinem Leben:
  
Dottore wuchs auf, als die zweite Hälfte des auf 1000 Jahre projektierten Reiches ablief. Nördlich von Stettin lag Pölitz, ein Hydrierwerk, dort wurde Kohle in Benzin verwandelt. Benzin wurde gebraucht, um Panzer zu fahren, Panzer waren für Dottore der Inbegriff von toll. Die Wohnung wurde mit einer Zentralheizung aus dem Keller beheizt, der dazu benutzte Brennstoff war Koks. Wie man aus dieser harten, brökeligen Materie das flüssige, eigenartig riechende Benzin herstellen konnte, war nur rätselhaft, musste aber tatsächlich funktionieren, ab und zu sah man doch Panzer.

Auf Häuserwänden stand: Kanonen statt Butter, auch wieder solch eine seltsame Umwandlung. Butter gab es auf Marken, war rationiert, Dottore durfte nach dem Befüllen der Butterdose das Papier ablecken. Daher wusste er, warme Butter ist ganz weich, wie man stattdessen Kanonen machen konnte, die doch hart und groß waren, ein weiteres Rätsel.

Irgendwann fand eine Straßenaufklärung statt, nicht in sexualibus, sondern über den Sachverhalt, dass man aus Juden Seife machte. Juden sah man nicht mehr, früher waren das solch traurig blickende Menschen gewesen. Möglich hielt das Dottore schon, aber er mochte nunmehr keine Seife. Also benutzte er beim Händewaschen vor dem Essen keine. Die Hände waren nicht sauber, die Seife nicht nass, also wurde das Händewaschen wiederholt, aber nicht mehr „leine, leine!“. Fortan schlich sich Dottore in die Küche und schüttete in einem unbemerkten Augenblick etwas ATA in die linke Hand, ging dann ins Bad, wusch sich damit die Hände, träufelte die auf einem widerlichen Gegenstand mit Gumminoppen nach oben und unten liegende Seife nass, und hatte nun schön gewaschene Hände. Nur Baden war ein Problem, es fand einmal pro Woche statt und war eigentlich herrlich. Die Schwierigkeiten wurden dadurch behoben, dass es plötzlich Schwimmseife gab, also eine Seife, die im Wasser nicht unterging, die konnte nicht so unangenehm hergestellt worden sein. Mit Badetablette und Schwimmseife war wieder unbeschwertes Baden möglich.

Nun wuchs Dottore nicht in einem antifaschistischen Haushalt auf, der Vater war in der Partei, zudem in der HJ Bannführer (Rechtswart für den Gau Pommern), jedoch hatte die Mutter ein rheinisch-folkloristisches Verhältnis zur Religion und mochte Kollwitz und Barlach, also entartete Kunst, was wohl bewirkte, dass es ein Korrektiv zur außen herrschenden Ideologie gab. Sie weigerte sich strikt, ein vermeintliches „Führerbild“ aufzuhängen, das dem Parteigenossen zur Geburt des „Stammhalters“ geschenkt worden war; später stellte sich heraus, es war ein Ölgemälde des Stettiner Hafens, das nun im dortigen Museum hängt, aber das ist eine andere Geschichte.


Die Konfrontation mit der Wirklichkeit dieser Erinnerungen fand stets statt: Der Bombenangriff auf Pölitz führte dazu, dass eines der Flugzeuge überflüssige Bomben beim Wegflug abwarf, das Nachbarhaus brannte aus. Dottore kann sich noch heute an seine widersprüchlichen Emotionen erinnern, zwischen Neugier und Schaudern schwankend musste er wieder hinsehen und weggucken. Der Drang nach Butter ist allem Altersgenossen eigen, als Dottore abnehmen wollte, da wurde er auf Margarine verwiesen, deren Scheußlichkeit es ihm ermöglicht, sie nur ganz dünn aufzustreichen. Als Degenhardt davon sang, man habe sich die Hände gewaschen „mit Sand, jawohl mit Sand“, da war Dottore klar, auch der kleine Franz-Josef hatte ATA benutzt. Wer den Holocaust leugnet, ist nicht in Deutschland aufgewachsen, gewusst haben das sogar wir Kinder. 

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